An der Humboldt Uni in Berlin wurde ein Vortrag nach heftiger Kritik abgesagt. Im ZDFheute-Interview erklärt ein Biologe die Anzahl der Geschlechter und was uns definiert.
Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht wollte in der Langen Nacht der Wissenschaften in Berlin einen Vortrag über Sex und Gender halten. Ihre These: "Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt". Nach heftiger Kritik wurde der Auftritt abgesagt.
Prof. Dr. Diethard Tautz erklärt im ZDFheute Interview, warum Sex und die Annahme von nur zwei Geschlechtern zu den am wenigsten verstandenen biologischen Phänomenen gehört.
ZDFheute: Gibt es in der Biologie des Menschen nur zwei Geschlechter: Mann und Frau?
Prof. Dr. Diethard Tautz: Es gibt zunächst die chromosomale Geschlechtsbestimmung, die ist schon mit der Befruchtung da. X und Y. Männer besitzen ein X- und ein Y-Chromosom, Frauen zwei X-Chromosomen. Wenn ich aber Geschlecht darüber definiere, wie ein Mensch reagiert und sich verhält, dann sind zwei Geschlechter nur ein soziales Konstrukt.
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Man muss sich überlegen, warum gibt es überhaupt geschlechtliche Fortpflanzung und Sex? Um Variabilität zu erzeugen, die in der Evolution gebraucht wird, um sich etwa gegen Parasiten zu wehren, oder an neue Umweltbedingungen anzupassen. Das ist die Grundlage, warum überhaupt die Rekombination des genetischen Materials möglich ist.
Wir müssen reden! In der Folge “Auf der Couch” diskutieren die beiden Gäste, Teresa Reichl und Torben Hundsdörfer, über Sprache, die aufregt.
ZDFheute: Und wie wird entschieden, ob ich männliche oder weibliche Geschlechtsmerkmale habe?
Tautz: Man kann sich das so vorstellen: Es gibt einen binären Schalter, der in der frühen Entwicklung, in der embryonalen Entwicklung, gedrückt wird, damit werden die primären Geschlechtsmerkmale entschieden und unterschiedlich ausgeprägt. Aber von dem binären Schalter bis hin zu dem, was das Geschlecht dann wirklich ausmacht, und auch die Verhaltensstrategien der Geschlechter bestimmt, passiert noch so viel.
Es gibt keine klaren Kategorien männlich/weiblich, es gibt nur einen Durchschnitt. Das heißt, dass die meisten Menschen auf einer der Seiten des Durchschnitts sind, aber eben nicht exakt der Durchschnitt. Deswegen ist dieses Konstrukt Mann/Frau eigentlich ein Kultur-Konstrukt, denn die Diversität ist viel größer.
ZDFheute: Ist bei unserer Geburt festgelegt, ob wir klar Mann oder klar Frau sind?
Tautz: Da muss man erst einmal die Frage klären, was versteht man unter Mann und Frau? Psychologen bestätigen, dass es häufig Verteilungen sind, also in manchen Bereichen fühle ich mich eher männlich oder weiblich, das überlappt sich in der Regel auch. Das heißt, es ist eigentlich eine Kombination von einzelnen Eigenschaften.
Es gibt demnach auch phänotypische Frauen, die aussehen wie Frauen, die aber handeln wie Männer oder umgekehrt. Die biologische Frage: Ist das schon festgelegt, wenn ich geboren bin, oder entsteht das später? – das würde ich im Moment noch als ungeklärt ansehen.
Nachdem der binäre Schalter gedrückt und die primären Geschlechtsorgane festgelegt worden sind, kommt es zu der Frage: Wie entsteht das Gehirn? Das Gehirn hat eine Morphologie, die durch bestimmte Gene festgelegt wird. Darüber hinaus gibt es aber auch neuronale Verschaltungen, die zumindest zu einem gewissen Teil durch variable Gene festgelegt werden, die beeinflussen, wie wir uns verhalten und fühlen.
Unklar ist, welcher Anteil der Verhaltenssteuerung bereits im Mutterleib festgelegt wird, oder erst später, zum Beispiel mit der Pubertät. Dazu kommt, dass das Verhaltensrepertoire auch durch Lern- und Umwelteinflüsse geprägt wird.
Die Ampel-Regierung will das Transsexuellen-Gesetz von 1981 durch ein neues Selbstbestimmungsgesetz ablösen. Betroffene Menschen können dann ihr Geschlecht und ihren Namen viel leichter als bisher ändern.
ZDFheute: Inwiefern definieren unsere Hormone, wie männlich oder weiblich wir sind?
Tautz: Hormone kann man zu den primären Geschlechtsmerkmalen zählen, aber selbst dabei gibt es große Unterschiede zum Beispiel in der Regulation der Hormone und in Bezug auf die Hormonschwankungen. Es ist auch hier wieder nicht die Binarität, sondern die Variabilität, wo es immer auch Überlappungen zwischen den Geschlechtern gibt.
Die Reproduktion wird im Durchschnitt sichergestellt, aber das Individuum kann sich in einem großen Spektrum von weiblich bis männlich bewegen.
ZDFheute: Nicht binäre Menschen bewegen sich dann auch irgendwo in diesem Spektrum?
Tautz: Ja, deswegen finde ich es auch problematisch, dass aus Teilen der queeren community versucht wird, neue Kategorien zu erfinden, das macht keinen Sinn, weil es eben ein Spektrum ist. Auch wenn die primären Geschlechtsorgane männlich oder weiblich sind, kann alles was danach kommt, eine andere Verteilung haben, also Verhaltensweisen, Strategien und Bevorzugungen. Evolutionsbiologisch ist das alles sehr einfach zu erklären: Variation ist der Schlüssel zum Überleben der Art und nicht Stereotypen.
Das Interview führte Alica Jung