Der Druck war zu groß. Zwei Wochen, bevor ihr vermutlich endgültig der Doktortitel aberkannt worden wäre, ist Franziska Giffey selbst zurückgetreten. Die SPD hofft auf die Zeit.
Bei der morgendlichen Kabinettssitzung an diesem Mittwoch sieht alles noch recht selbstverständlich aus. Franziska Giffey steht mit ihren Kabinettskolleginnen und -kollegen zusammen. Ein Gespräch mit Umweltministerin Schulze, eines mit Justizministerin Lambrecht, mit Arbeitsminister Heil, ein längeres mit Kanzlerin Merkel. Da wissen es die meisten schon: Giffey gehört nicht mehr zu diesem Kabinett: Die Bundesfamilienministerin hat ihren Rücktritt erklärt.
Rücktritt zwei Wochen vor Ablauf der Frist
Warum die 43-jährige SPD-Politikerin ausgerechnet heute zurücktritt, bleibt etwas rätselhaft. Sie selbst gibt nur eine schriftliche Erklärung ab. Hintergrund ist das dritte Verfahren zur Aberkennung ihres Doktortitels, das die Freie Universität Berlin eingeleitet hatte. 2019 hatte ihr die Uni eine Rüge erteilt. Das Problem: Eine Rüge für eine Dissertation mit Plagiaten gibt es gar nicht im Berliner Hochschulrecht, wie sowohl der Staatsrechtler Ulrich Battis als auch der Wissenschaftliche Dienst des Berliner Senats auf Antrag der AfD feststellten.
Ein neuerliches Prüfungsverfahren wurde daraufhin eingeleitet. Das Ergebnis liegt seit 5. Mai vor. Bis Anfang Juni, teilt die Uni mit, wurde "der Verfasserin der Promotionsarbeit" eine "Frist von vier Wochen" gegeben, um Stellung zu nehmen. Diese wäre folglich Anfang Juni abgelaufen. Zwei Wochen vorher zieht Giffey nun die Reißleine. Zwar sagt die Uni, dass der Bericht des Prüfverfahrens vor dem Abschluss nicht veröffentlich werde. Positiv ist es aber offensichtlich nicht.
Giffey: Anspruch auf "Klarheit und Verbindlichkeit"
Giffey hatte immer gesagt, sollte die Universität zu dem Ergebnis kommen, ihr den Titel offiziell abzuerkennen, werde sie ihr Amt niederlegen. In ihrer heutigen Erklärung schrieb sie:
Sowohl die Bundesregierung als auch ihre Partei hätten einen "Anspruch auf Klarheit und Verbindlichkeit", so Giffey.
Den Doktortitel selbst hatte die SPD-Politikerin schon nicht mehr geführt. Eigentlich war schon etwas Gras über die Affäre gewachsen. Allerdings: Zu ihrem Wort wollte und musste sie stehen, will sie glaubwürdig bleiben. Je früher der Rücktritt also, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass über den Sommer wieder etwas Gras über alles wächst. Noch bevor der Wahlkampf so richtig begonnen hat.
Berliner SPD derzeit nur Juniorpartner
Denn in vier Monaten wird gewählt. Im Bund, aber am gleichen Tag auch in Berlin, wo Giffey Spitzenkandidatin der SPD ist und Regierende Bürgermeisterin werden will. Daran hält sie auch fest: "Als Berlinerin konzentriere ich mich jetzt mit all meiner Kraft auf meine Herzenssache." Ihre Chancen sind im Moment allerdings ähnlich überschaubar wie die Aussichten die SPD im Bund.
Nach Umfragen des "Tagesspiegel" liegt die SPD derzeit zwar hinter den Grünen auf dem zweiten Platz. Allerdings sind es gerade einmal 16,9 Prozent. Die Grünen haben gut zehn Prozentpunkte mehr. Demnach würde es, Stand heute, nur zur Neuauflage der rot-rot-grünen Regierung reichen - dann aber mit der SPD als Juniorpartnerin im Senat.
Im Bund kommt die SPD derzeit nicht auf viel mehr als 15, 16 Prozent. Der Rücktritt Giffeys dürfte für Kanzlerkandidat Olaf Scholz ebenfalls etwas ungelegen kommen. Zumal der Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie ebenfalls in der Kritik steht. Giffey schreibt in ihrer Rücktrittserklärung, sie könne gehen, weil "alle Aufträge aus dem Koalitionsvertrag in meinem Ressort durch die Kabinettsbeschlussfassung" gebracht worden seien. Dass nicht alle erledigt sind und, wie bei der Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern die Details mit den Ländern fehlen, erwähnte sie - natürlich - nicht.
- Kinderärzte warnen vor Triage in Psychiatrie
In der Corona-Pandemie sind Kinder und Jugendliche hinten runter gefallen, sagen Ärzte. Man müsse mit "verheerenden Langzeitfolgen" rechnen. Die Psychiatrien seien voll.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sagte, er nehme den Rücktritt "mit Bedauern und großem Respekt" zur Kenntnis. "Das ist für uns ein Verlust." Scholz sagte, die Ministerin habe "eine riesige Erfolgsbilanz". Und: "Danke Franzika Giffey." Auch Kanzlerin Merkel lobte sie. Giffey habe mit "Leidenschaft und Geschick" Fortschritte auf ihrem Gebiet erreicht:
Kritik von der AfD: Berlin ist keine "Resterampe"
Die SPD-Berlin will an Giffey festhalten. Die Interpretationsrichtung ist auch schon klar: Giffey zeige, so Landesparteichef Raed Saleh, "wie man Wort hält und damit höchste Ansprüche an politische Integrität definiert". Auch die Opposition hat ihre Interpretation gefunden: Berlin sei nicht die "Resterampe für gescheiterte Politikerexistenzen" heißt es aus der AfD. Volker Wissing, FDP-Generalsekretär, twitterte: "Die SPD kann nicht bei den eigenen Ministerinnen andere Maßstäbe anlegen als bei den Ministern anderer Parteien."
Liest man die sozialen Medien, sind mit "anderen Ministern" nicht nur etwa Theodor zu Guttenberg gemeint, der wegen seiner Plagiatsdissertation zurücktreten musste. Sondern auch aktuelle Minister:
Kurios: Noch ist die Familienministerin trotz ihres Rücktritts im Amt. Einen Termin, um ihre Entlassungsurkunde in Empfang zu nehmen, gibt es noch nicht. Die SPD will, dass sich für die letzten Monate der Legislaturperiode niemand in Giffeys Ressort einarbeiten muss. Das Familienressort übernimmt jetzt: Justizministerin Lambrecht.