Arme fürchten harten Winter:Großbritannien: Führungslos in Energiekrise
von Michael Haselrieder, London
28.08.2022 | 11:19
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Die Inflation in Großbritannien ist so hoch wie seit 40 Jahren nicht: 10,1 Prozent. Die Energiekosten explodieren. Einen Premier gibt es nicht. Viele fürchten den sozialen Abstieg.
Angesichts explodierender Energiekosten in Großbritannien warnen Versorger mit drastischen Worten vor schwerwiegenden Folgen für die Verbraucher.
Quelle: dpa
In Morton, einem kleinen Dorf mitten in England leben Gary und Natasha Waterhouse. Natasha ist seit einer Krebsoperation schwerbehindert. Gary hat seinen Job als Taxifahrer aufgegeben, um sie zu pflegen. Ihnen bleibt ohnehin wenig Geld zum Leben. Und die Lebenshaltungskosten steigen weiter.
Gary zeigt uns seine Strom- und Gasrechnungen. Seit 2019 sind ihre Kosten von umgerechnet 36 Euro im Monat auf über 200 Euro gestiegen. "Wir überlegen, welche Räume wir überhaupt noch heizen können", sagt Natasha Waterhouse.
Wir werden mehrere Schichten Kleidung anziehen und Decken bereithalten, um uns zu wärmen.
Natasha Waterhouse
Vom Staat werden sie eine Einmalzahlung von umgerechnet rund 1.200 Euro bekommen. Doch das wird nicht reichen. Denn die Energiepreise werden im Herbst weiter steigen.
Hunderttausenden Briten droht der soziale Abstieg
Am vergangenen Freitag hat die unabhängige britische Regulierungsbehörde Ofgem die neue Obergrenze festgesetzt. Die Energieversorger können ab Oktober umgerechnet 4.200 Euro pro Jahr von einem Durchschnittshaushalt verlangen.
Das ist 80 Prozent mehr als bisher. Der aktuelle Preisdeckel liegt bei umgerechnet 2.330 Euro. Gut ein Drittel der Haushalte in Großbritannien - so aktuelle Umfragen - hat schon jetzt Probleme, die Energiekosten zu bezahlen. Hunderttausenden droht der soziale Abstieg.
Energie: Folgen der Preisexplosion - Wie jeder Strom und Wärme sparen kann; Tempolimit: Ladenhüter oder Lösung? - Bremsen für Umwelt und Geldbeutel; Modern Heizen: Weg von Öl und Gas - Wärmepumpe und Geothermie im Check; u.a25.04.2022 | 41:09 min
Um diesen Menschen zu helfen, hat William McGranaghan in London eine Lebensmittel-Tafel gegründet. Heute kommen noch mehr Bedürftige als während der Corona-Krise, sagt er: "Manchmal haben wir aber einfach nicht genügend Lebensmittel. Dann müssen wir Familien ohne Essen nach Hause schicken. Wenn eine Mutter oder ein Vater nicht genug hat, um Abendessen zu kochen, dann bricht mir das das Herz."
Energiekrise erreicht auch Mittelschicht
Die größte Angst aber haben die Menschen, die zu Williams Tafel kommen, vor dem Winter, wenn sie ihre Heizungen wieder anstellen. "Ich weiß nicht, woher dann das Geld kommen soll, um zu heizen und um Essen zu kaufen", erzählt uns Mandy.
Dann muss ich mich entscheiden: Essen oder heizen.
Mandy, kommt regelmäßig zur Lebensmittel-Tafel
"Ich würde empfehlen, Türen zu schließen und bestimmte Räume zu heizen", so Harald Lacher, Energieberater der Verbraucherzentrale. Wärmepumpen seien auch empfehlenswert.26.07.2022 | 13:11 min
Die Ärmsten trifft die Krise am härtesten. Doch sie hat längst auch die Mittelschicht erreicht.
Im Norden Englands, in der Nähe von York leben Susanna und Dave Morgan mit ihren zwei Töchtern. Von zu Hause aus betreibt das Ehepaar einen Online-Abo-Service für hochwertigen Kaffee und fürchtet jetzt Umsatzeinbußen.
In der Krise denkt jeder darüber nach, wofür man Geld ausgibt. Und wir verkaufen Luxusgüter.
Susanna Morgan
Lohnerhöhungen für Mitarbeitende
Die Kaffeepreise sind weltweit gestiegen. Susanna verkauft eine Box mit 500 Gramm Bohnen jetzt nicht mehr für 17, sondern für 19 Pfund. "Wir haben unsere Preise erhöht. Wir haben aber auch die Löhne für unsere Angestellten erhöht, weil auch sie ihr Benzin, ihren Strom und ihre Mieten zahlen müssen." Doch in der Krise scheuen viele Unternehmen Lohnerhöhungen.
Gazprom drosselt seine Lieferungen weiter - auf 20 Prozent der Kapazität. Deutschland kann das aushalten, sagt Ökonom Jens Südekum im ZDF. Aber nur unter bestimmten Bedingungen.
Interview
Es ist die größte Energiekrise in Großbritannien seit Jahrzehnten - und das Land ist führungslos. Die alte Regierung trifft keine Entscheidungen mehr. Premierminister Boris Johnson entspannte gerade im Urlaub in Griechenland. Seine konservative Partei sucht einen Nachfolger. Das Duell zwischen Außenministerin Liz Truss und Ex-Finanzminister Rishi Sunak beschäftigt die Briten seit Wochen.
Natasha und Gary Waterhouse haben immer die Konservativen unterstützt. Doch jetzt sind sie tief enttäuscht. "Ihnen geht es nur darum, wer neuer Premierminister wird. Sie haben den Bezug zu den einfachen Menschen und zum Mittelstand verloren", sagt Natasha Waterhouse.
Wir fühlen uns wie auf einem sinkenden, verlassenen Schiff.
Gary Waterhouse
"Die Politiker konzentrieren sich nicht auf die wichtigen Dinge - und das sind die Menschen dieses Landes." Menschen wie Natasha und Gary - und Hunderttausende andere in Großbritannien, die nicht wissen, wie sie durch den Winter kommen sollen.