Boris Johnson taumelt, aber er stürzt nicht. Doch wie man es auch dreht und wendet - das Schicksal des britischen Premiers ist besiegelt.
Erwartungsmanagement heißt das ganz schnöde im Fachjargon der Spindoktoren, die jeder Nachricht, Entwicklung, Meldung den "richtigen" Dreh geben - und da waren die Konservativen um Boris Johnson sehr fleißig im Vorfeld der Kommunalwahl. Massive Verluste drohen, alles ganz schlimm. Das ist es nicht geworden.
Johnsons Nimbus des Unbesiegbaren bröckelt
Ja, desolat sind die Ergebnisse in London. Das ist mittlerweile einkalkuliert. Jüngere, urbane Wählerschichten sind schwer zu erreichen mit dem Brexit. Asylbewerber ohne Prüfung nach Ruanda abschieben oder Attacken auf die Justiz, bestimmte Medien und wer gerade taugt, um Wut und Zwietracht zu säen.
Im ländlich geprägten Raum oder in den alten Industriestandorten im Norden Englands hat das nochmal besser funktioniert, aber: Der Nimbus vom unbesiegbaren Wahlkämpfer Boris Johnson, er bröckelt.
Labour, die größte Oppositionspartei, hat nicht wirklich gewinnen können in den alten Hochburgen. Allerdings nur, wenn man im Vergleich die letzten Kommunalwahlen 2018 zugrundelegt. Doch im Vergleich zur Parlamentswahl 2019, dem Erdrutschsieg Johnsons, der den Brexit brachte, war das auch dort eine Niederlage für seine Tories. Hier braucht es Spin.
Dass die Schlappe nicht größer ausgefallen ist, darüber darf man sich wundern. Johnson ist der erste Premierminister im Amt, der einen Strafbefehl aufgebrummt bekommt. Für das Brechen der Corona-Regeln, Partys in seinem Amtssitz. Noch immer laufen die polizeilichen Ermittlungen, weitere Strafen für Johnson dürften folgen. Am Ende wartet der unabhängige Bericht einer Regierungsbeamtin, der wegen der laufenden Ermittlungen nicht veröffentlicht werden durfte. Vernichtend für Johnson, nennen ihn Wissende. Oder viel Spin?
"Pestminster" - die schmutzigen Seiten der Politik
Wenig Spin war in Sachen "Pestminster" möglich - der Spitzname für das Regierungsviertel Westminster, wenn es mal wieder um die schmutzigen Seiten der Politik geht. Und in jüngster Zeit dabei fast nur um die Konservativen.
Ein koksender Abgeordneter. Ein anderer, verurteilt wegen eines sexuellen Übergriffs auf einen Minderjährigen. Der nächste schaut Pornos auf den Bänken des Parlaments, angeblich suchte er nach Traktoren. Mehrmals. Ereignisse eines Frühlings. Alle jetzt keine Mitglieder des Unterhauses mehr.
Ein Vierter, wohl verantwortlich für den Vorwurf, die stellvertretende Oppositionsführerin habe den Premier während der Debatten abgelenkt, indem sie Dinge mit ihren Beinen machte wie Sharon Stone im Hollywood-Streifen "Basic Instinct". Wertekonservatismus, wie der Name schon sagt, eine Sache der Tories - unter Johnson nicht mehr.
Viel Arbeit hatten die Spindoktoren, als Johnson in einem Interview mit der 77-jährigen Elsie konfrontiert wurde. Die Rentnerin fährt häufig stundenlang mit dem Bus durch London, denn sie kann sich das Heizen nicht mehr leisten. Die Antwort von Johnson: Er habe als Londoner Bürgermeister das möglich gemacht - freies Busfahren für Senioren. Was auch noch falsch ist. Gelogen, je nach Spin.
Brexit verschärft Lage im Land
Zehn Prozent Inflation, eine irgendwie panische Notenbank. Die enorm steigenden Lebenshaltungskosten - keine hausgemachte Krise, ein weltweites Phänomen. Aber durch den Brexit noch ärger als ohnehin schon, rechnen Experten vor. Langfristig ökonomisch enorm schädigend sei das Vorzeigeprojekt Johnsons. Mehr als die Pandemie etwa.
Dabei feiert der - für das Finden von aus dem EU-Austritt erwachsenden Vorteilen und Gelegenheiten zuständige - Minister (gibt es wirklich) es als Erfolg, dass die britische Seite wiederholt auf Zollkontrollen für Waren aus der EU verzichtet hat. Um dadurch einen Milliardenschaden von der Wirtschaft fernzuhalten, die auf Importe angewiesen ist.
Einen Milliardenschaden, der durch den Brexit erst entsteht. Der im Namen des Freihandels erklärt wurde, man dabei aber den größten Handelsblock der Welt, direkt vor der Haustür, verlassen musste. Man zieht Handelsbarrieren hoch, um sich dann über mangelnden Freihandel zu beschweren. Ist das noch Spin oder schon Irrsinn?
Warum Johnson sich noch halten kann
Stellt sich die Frage, wie Johnson überhaupt noch im Amt sein kann? Vielleicht, weil er viele kluge, konservative Köpfe und Schwergewichte während der Brexit-Turbulenzen aus der Partei befördert hat.
Und die Wahl eines Nachfolger selbst Parteiliebhabern im Land echte Qualen bringt, schon beim Nachdenken darüber. Weil viele fürchten, mit ihm zu fallen. Und ganz am Schluss, weil er doch der große Wahlgewinner ist, von 2019. Doch dieser Nimbus, wie gesagt, bröckelt.
Drei Nachwahlen zum Parlament stehen an. Weitere mögliche politische Sargnägelchen. Weil den meisten in einer Umfrage für die "Times" das Wort Lügner einfällt, gefragt nach seinen Eigenschaften. Weil man so keine Wahlen mehr gewinnt. Weil Johnson überdreht hat.