Vor zwei Jahren ging der Traum der Brexiteers von der großen Freiheit in Erfüllung: der Vollzug des EU-Austritts. Für die britische Wirtschaft ist er zunehmend ein Albtraum.
Großbritannien scheint weit entfernt von einstigen Brexit-Versprechen zu sein. Exporte in die EU sind bürokratischer, Wirtschaft und Gesundheitssystem sind angeschlagen.
Der Kontinent, Wirtschaftswachstum, sind in weite Ferne gerückt. Eine hausgemachte Krise, inmitten anderer Großkrisen wie Pandemie und Ukraine-Krieg. Die versprochenen großen Wohltaten, die der Brexit bringen soll: Nichts davon ist bislang eingetreten. Ganz im Gegenteil, erklärt Simon Spurrell, Firmengründer der Cheshire Cheese Company.
"Gelobtes Land" Europäische Union
Europa war für die Käserei im nordenglischen Macclesfield das gelobte Land. Satte Zuwächse im Geschäft mit dem Kontinent Jahr für Jahr. Nun ist das komplette Geschäft mit dem Kontinent aus und vorbei, über Nacht, als am 1. Januar 2021 der EU-Austritt Fakt wurde.
Hohe Zollkosten und null Hilfe von der britischen Regierung
In zwei Jahren hat die Firma 600.000 Euro verloren, stand vor dem Ruin. Das Unternehmen lieferte oft Einzelbestellungen nach Europa. Bei 30 Pfund für den Käse kommen nun 180 für die Zollformalitäten dazu.
Grenzbeamte, Klinikpersonal und viele weitere öffentliche Sektoren in Großbritannien legen über die Feiertage ihre Arbeit nieder, um für höhere Löhne zu streiken. Besonders Reisende müssen mit langen Wartezeiten rechnen.
Es gab null Hilfe von der Regierung, die hätten ja den Deal, den gerade geschlossenen Handelsvertrag mit der EU, selbst nicht verstanden. "Hinter vorgehaltener Hand," so Spurell, "haben die Regierungsbeamten uns damals erklärt, dass wir eine Niederlassung in der EU gründen sollten."
Alternativen für Firmen: Geschluckt werden oder verkaufen
Am Ende musste Spurrell seine Firma verkaufen. An den Käserei-Giganten Joseph Heller. Die Ware geht nun über Amsterdam ins Europageschäft. Arbeitsplätze sind dort entstanden und nicht mehr in Macclesfield.
Heller zahlt auch 180 Pfund für jede Lieferung - aber bei einmal 1.000 Paletten verspielt sich das preislich. Geschluckt werden oder Pleite gehen - das sei die Frage für klein- und mittelständische Unternehmen.
Brexit ist für Wirtschaft eine Bilanz des Schreckens
Das große Bild nach zwei Jahren Brexit - es tut der Wirtschaft weh. Denn auch größere Unternehmen kämpfen mit den Folgen. Der Tenor in der Führungsetagen: Der Austritt sei in Summe schlimmer für Großbritannien als die Folgen der Pandemie oder des Ukraine-Krieges.
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Der Brexit ist keine Generalerklärung für die momentane Wirtschaftskrise in Großbritannien. Aber es ist wie ein schwerer Anker, der die Ökonomie nach unten zieht, erklärt einer der führenden Experten in Sachen britisch-europäisches Verhältnis, Prof. Anand Menon von der Denkfabrik "UK in a changing Europe":
Menon: "Noch kein allgemeines Brexit-Bedauern"
Für Menon liegt der Grund dafür in der EU: "Weil wir dann die Regeln, die in Brüssel gemacht werden, ohne Mitspracherecht akzeptieren müssten." Was auch bedeute, dass es kein Zurück gebe, zumindest nicht in absehbarer Zeit, so Menon.
Weite Teile des öffentlichen Dienstes streiken im Dezember. Wegen der Inflation reicht vielen Menschen ihr Lohn nicht mehr aus. Ein Weg aus der Krise ist derzeit nicht in Sicht.
"Am 24. Juni 2016 bedauerten 48 Prozent der britischen Öffentlichkeit den Brexit. Da sind die dazu gekommen, die jetzt denken, dass es 2016 die falsche Entscheidung war. Auch ein erheblicher Teil der Austrittswähler ist jetzt bereit zu sagen, dass Brexit schlecht für die Wirtschaft war," so Menon.
Handel mit anderen Nationen gleicht Verluste nicht aus
Auch, weil die großen Versprechungen, dass ein freies Britannien mit aller Welt handeln könnte, um die Verluste mit der EU auszugleichen, sich als Fantasie herausgestellt hätten:
"Und durch die Öffnung unserer Märkte hat die Regierung Teile unserer Wirtschaft einem größeren Wettbewerb ausgesetzt. Vor allem bei den Handelsabkommen mit Australien und Neuseeland," so Menon weiter.
Brexit-Streit zwischen London und Brüssel geht weiter
Auch politisch ist der Brexit noch lange nicht erledigt, anders als der damalige Premier Johnson zum Austritt erklärt hatte: Noch immer streiten London und Brüssel um das Nordirland-Protokoll. Das besagt, dass Nordirland wirtschaftlich Teil der EU bleibt. Damit kann die Grenze zur Republik Irland offenbleiben.
Dass ihr Landesteil anders behandelt wird als der Rest des Königreichs, erzürnt jedoch die probritischen Parteien in Nordirland. Die blockieren das Regionalparlament. Seit Monaten gibt es keine Regierung.
Woran auch Ärzte verzweifeln. Ohne ein verabschiedetes Gesundheitsbudget wachsen die Wartelisten, ohnehin die längsten im Land, weiter, erklärt der Sprecher der nordirischen Hausärztevereinigung, Dr. Alan Stout.
Streitschlichtung mit der EU im April 2023?
Britanniens neuer Premier Rishi Sunak hat Hoffnung gemacht, dass der Streit mit der EU geschlichtet werden kann. Bis zum 25. Jubiläum des Endes des nordirischen Bürgerkriegs kommenden April. Prof. Menon erklärt:
"Er ist gefangen: Zwischen dem Wunsch, einen Kompromiss zu finden. Bevor US-Präsident Biden zum Jahrestag des Karfreitagsabkommens nach Belfast kommt. Und seiner sturen Parlamentsfraktion," sagt Menon.
Der frühere Finanzminister Rishi Sunak wird britischer Premierminister und Parteichef der konservativen Tories. Er folgt auf die glücklose Liz Truss.
Brexit-Bilanz: Enormer Schaden für die britische Wirtschaft
Zwei Jahre danach kann man eine klare Bilanz ziehen. Der Schaden für die britische Wirtschaft ist enorm. Die regierenden Konservativen haben sich über den Brexit selbst zerfleischt. Und dürften bei der nächsten Wahl wohl in der Opposition landen.
Labour, bald vielleicht an der Macht, meidet das Thema Brexit wie der Teufel das Weihwasser. Aus Angst, dass deren durchaus patriotische Klientel im Arbeitermilieu jegliche Bewegung in Richtung EU bestrafen könnten, und den sicher geglaubten Wahlsieg gefährden.
Die EU hat größere Probleme als den Brexit. Europa hat sich insgesamt selbst geschwächt. Und mit der Art und Weise, wie der Brexit ablief, hat Großbritannien viel internationales Renommee verloren.