Parteitag geht zu Ende: Wo sind die Grünen geblieben?
Kommentar
Parteitag geht zu Ende:Wo sind die Grünen geblieben?
von Patricia Wiedemeyer
16.10.2022 | 18:52
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Die Grünen haben sich grundlegend verändert, sind in der Realität als Regierungspartei angekommen: Geräuschlos räumen sie urgrüne Themen ab. Sind das noch Grüne?
Sind das noch Grüne? Manch einer, der seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten grüne Parteitage besucht, mag sich verwundert die Augen reiben an diesem Wochenende. Wo sind sie geblieben, die streitbaren, lauten Ökofundis, die Pazifisten, die gegen Atomkraft, gegen Waffenlieferungen, egal in welches Land kämpfen, die streiten, wenn’s sein muss, auch lautstark und bis tief in die Nacht hinein, wo sogar mal Farbbeutel geworfen wurden?
Hier in Bonn jedenfalls gibt es sie nicht mehr, die grüne Partei hat sich grundlegend verändert. Man könnte auch sagen, sie ist in der Realität angekommen, als Regierungspartei. Geräuschlos werden urgrüne Themen abgeräumt, es gibt kaum kritische Stimmen, und wenn ja, erhalten sie Höflichkeitsapplaus, mehr nicht.
Die Grünenvorsitzende weiß, was sie ihren Mitgliedern in der Krise zumutet. AKW-Laufzeiten, Braunkohleeinigung in NRW, Waffenlieferungen – heikle Themen. Doch die Partei stehe zusammen, so Lang stolz.17.10.2022 | 5:30 min
Kriegspartei für den Frieden
So stimmen die Delegierten der sogenannten Einsatzreserve für zwei Atomkraftwerke im Süden des Landes zu, Waffenlieferungen an Saudi-Arabien werden zwar verurteilt und irgendwie der Vorgängerregierung angelastet. Aber - die Prognose sei erlaubt - auch künftig wird es sie geben, europäischen Rüstungsprojekten kann und will man sich halt nicht verweigern.
Als Kriegspartei für den Frieden definieren sie sich. Waffenlieferungen an die Ukraine werden mit großer Mehrheit gebilligt, von vielen sogar gefordert, obwohl die Grünen noch vor einem Jahr in die Regierung einzogen mit dem Versprechen, dass in Konfliktgebiete eben keine Waffen geliefert werden dürfen.
Parteivorstand entgeht knapp einer Schlappe
Nur beim Thema Klima geht es noch einmal rund: Es geht um Lützerath und den mit RWE ausgehandelten Kohleausstieg schon 2030 statt 2038. Fast wäre dies von der Grünen Jugend gekippt worden. Am Ende wurde es knapp bei der Abstimmung, aber dem Parteivorstand blieb die Schlappe erspart.
Die grüne Partei, sie ist eben nicht mehr die grüne Partei von früher. Kaum eine Partei hat in den letzten Jahren solch einen Wandel durchgemacht, kaum eine Partei hat so viel ihrer DNA über Bord geworfen. Über allem steht jetzt: "Wir wollen regieren".
Dafür tun sie fast alles. Kein Wunder, fast 40 Prozent der Delegierten sind neu in der Partei. Es sind vor allem junge Leute, denen es um die Themen Klima, Demokratie und soziale Gerechtigkeit geht. Sie wollen gestalten, sie wollen regieren, sei es im Bund oder in den bald elf Bundesländern.
Endlose Debatten bis tief in die Nacht, über jedes Komma, über jeden Geschäftsordnungsantrag, das gab es mal, das gehörte dazu zu grünen Parteitagen. Heute stimmt noch nicht einmal der Zeitplan der Tagesordnung, rund eine Stunde früher enden Freitag und Samstagabend die Debatten - das gab es noch nie.
Parteitag legt Habeck enge Fesseln an
Wenig Streit, Verantwortungsbewusstsein in der derzeit schwierigen Lage, Kompromissbereitschaft, das ist das Signal, das die Grünen aussenden wollen. Selbst bei der Atomfrage zeigen sie Kompromissbereitschaft, beim Beschluss zwei AKW im Süden als Reserve bis Mitte April 2023 laufen zu lassen. Nicht zum Jahresende, wie eigentlich beschlossen, sondern noch einige Monate länger dürfen sie am Netz bleiben.
Im Vorfeld wurde dies unter Federführung von Jürgen Trittin ausgehandelt, wohl wissend, dass damit Wirtschaftsminister Robert Habeck sehr enge Fesseln angelegt wurden. Gegenüber der FDP darf er nun nicht mehr über den Parteitagsbeschluss hinaus gehen, das wäre Verrat an der eigenen Partei. Das Regieren in der Ampel wird damit nicht leichter.
Die Ampel muss eine Lösung im Streit um AKW-Laufzeiten finden - spätestens bis Mittwoch. Kanzler Scholz berief ein Krisentreffen ein, um zwischen Grünen und FDP zu vermitteln.