Im Bundestag ist der NS-Opfer gedacht worden. Bundestagspräsident Schäuble und die Holocaust-Überlebende Knobloch warnten vor einem Erstarken von Hass-Ideologien.
Die Vorsitzende der israelistischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, schildert sehr persönlich das Aufkommen der Judenverfolgung.
Zu Beginn der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble an 1.700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland erinnert. Die deutsch-jüdische Geschichte sei wechselvoll und widersprüchlich gewesen, so Schäuble. Das dunkelste Kapitel sei der Versuch gewesen, die jüdische Geschichte nicht nur aus der deutschen, sondern auch der Weltgeschichte auszulöschen.
Am heutigen Gedenktag - 76 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz - "gedenken wir aller Opfer des Nationalsozialismus", so Schäuble. "Wir verneigen uns vor jedem Einzelnen."
Schäuble: "Erinnerungskultur schützt nicht vor dreister Umdeutung"
Schäuble warnte eindringlich vor einem Erstarken von Hass-Ideologien. "Es ist niederschmetternd, eingestehen zu müssen: Unsere Erinnerungskultur schützt nicht vor einer dreisten Umdeutung oder sogar Leugnung der Geschichte." Sie schütze auch nicht vor neuen Formen des Rassismus und des Antisemitismus, "wie sie sich auf Schulhöfen, in Internetforen oder Verschwörungstheorien verbreiten".
76 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wird das Erinnern schwer - die Stimmen der Augenzeugen werden immer weniger.
Schäuble sprach sich dafür aus, "die Formen des Erinnerns zu erneuern". Dabei sei klar: "Unsere kollektive Verantwortung bleibt", sagte er. "Sie schließt auch nachfolgende Generationen ein - und Deutsche, deren Familien erst nach dem Nationalsozialismus nach Deutschland gekommen sind." Jeder müsse sich bewusst machen: "Das Selbstverständnis unseres Landes steht auf dem Spiel."
An Gedenktagen werde stets Verantwortung angemahnt, sagte Schäuble. Dabei stelle sich aber die Frage: "Werden wir ihr eigentlich gerecht?" Auch in Deutschland "zeigen sich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wieder offen, hemmungslos - und gewaltbereit", beklagte Schäuble.
- Aktion gegen das Holocaust-Vergessen
Am 27. Januar ist internationaler Holocaust-Gedenktag. Im Crowdsourcing-Projekt #everynamecounts werden Dokumente von Millionen NS-Verfolgten digitalisiert - auch von Freiwilligen.
Knobloch: Judenfeindlichkeit wieder salonfähig
Auch die Holocaust-Überlebende und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, beklagte in ihrer Rede diese Entwicklung. "Judenfeindliches Denken und Reden bringt wieder Stimmen; ist wieder salonfähig - von der Schule bis zur Corona-Demo." Immer mehr Juden würden wieder laut über Auswanderung nachdenken.
Es klaffe eine Lücke zwischen politischer Räson und gesellschaftlicher Realität. "Wer Judenhass an der Wurzel packen will, muss auch dort eingreifen, wo es weh tut - in der Mitte der Gesellschaft", so Knobloch. Die deutsche Demokratie müsse wehrhafter verteidigt werden.
Die 1932 geborene Knobloch schilderte sehr eindrücklich, teils den Tränen nah, ihre eigenen Erfahrungen als Kind und Jugendliche, wie sie die zunehmende Ausgrenzung und Anfeindung erlebte und erlitt, und wie "Schikane, Bedrohung, Beleidigung und Gewalt" immer mehr zur Normalität wurden.
Verschwörungstheorien und Antisemitismus werden lauter in Coronazeiten, doch gerade jetzt können Projekte dagegen nur eingeschränkt arbeiten. Wir stellen einige davon vor.
Es sei inakzeptabel, die Maßnahmen gegen Covid-19 mit der nationalsozialistischen Judenpolitik zu vergleichen. Das verharmlose den antisemitischen Terror des NS-Staates und die Schoah, sagte die 88-jährige Münchnerin, deren Großmutter im KZ Theresienstadt starb und deren Vater das Arbeitslager nur knapp überlebte.
Sie erinnerte an Millionen Opfer des Holocaust, legte in ihrer Rede "den Stab der Erinnerung" in die Hände der nachkommenden Generationen und wandt sich direkt an junge Menschen in Deutschland:
Weisband: "Einfach nur Mensch" sein können
Die 1987 in Kiew geborene Publizistin Marina Weisband hielt eine Rede als Vertreterin der dritten Generation nach dem Holocaust. Sie berichtete davon, dass es für Juden und Jüdinnen in Deutschland auch heute noch fast unmöglich sei, "einfach nur Menschen" zu sein. Sie müssten aus Sicherheitsgründen ihr Jüdischsein verstecken und unsichtbar machen.
Die Publizistin Marina Weisband schildert die Situation junger Juden in Deutschland. Ob man wolle oder nicht, man bleibe immer ein Teil dieser "Schicksalsgemeinschaft".
Die jüngere Generation der Juden in Deutschland stehe vor der Aufgabe, "einen Weg zu finden, das Gedenken weiterzutragen, ohne uns selbst zu einem lebenden Mahnmal zu reduzieren", sagte Weisband. Ziel sei es, dass jüdisches Leben in Deutschland als "schlichte Selbstverständlichkeit" wahrgenommen werde.
Am Ende der Gedenkstunde wurde in einer feierlichen Zeremonie die 1793 geschriebene und in Israel restaurierte Sulzbacher Torarolle fertiggestellt. Damit soll ein Zeichen gesetzt werden, dass der Staat sich selbst verpflichtet, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen.