Vor 75 Jahren hat Indien die Unabhängigkeit von Großbritannien zurückgewonnen. Doch von Gandhis gewaltlosem Widerstand ist in dem Land heute nicht mehr viel zu spüren.
"Nichts auf der Welt ist so kraftvoll wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist", lautet ein Ausspruch von Victor Hugo. Für die Inder war in den 1940er Jahren die Zeit gekommen, sich unter der Führung von Mohandas Karamchand Gandhi 1947 von der britischen Kolonialherrschaft zu befreien - mit völlig gewaltfreien Mitteln. Den britischen Besatzern begegnete Gandhi, dem der indische Dichter Rabindranath Tagore 1915 den hinduistischen Ehrentitel "Mahatma" - "Große Seele" - verliehen hat, im Geist der Liebe und der Gewaltlosigkeit.
Gewaltlosigkeit - Gandhis Gebot
Aufgewachsen in einem frommen Elternhaus fühlt sich der gläubige Hindu in jungen Jahren vom Jainismus mit seinen Geboten der Gewaltlosigkeit und der Achtung aller Lebewesen angesprochen. Er liest das indische Weisheitsbuch Bhagavadgita, die Bibel mit der Bergpredigt und Henry David Thoreaus Buch "Ziviler Ungehorsam".
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1888 geht Gandhi zum Jura-Studium nach London, 1893 wird er Rechtsbeistand einer indischen Firma in Südafrika und zum Fürsprecher der unterdrückten indischen Einwanderer. Die Verhältnisse in Indien führen dazu, dass Gandhi auch in seiner Heimat politisch aktiv wird.
Der große Vereiner
Rund 300.000 Briten leben Anfang des 20. Jahrhunderts in Indien und versuchen, die Fremdherrschaft über 400 Millionen Inder aufrechtzuerhalten. Gandhi möchte seinen Landsleuten ihr Selbstbestimmungsrecht sowie die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit wiedergeben. Dabei gelingt es ihm, die "indische Seele" zu mobilisieren und zu einen.
Mit einer eigenen Mischung von demütiger Sanftheit, unbeugsamer Entschlossenheit und klarer politischer Logik führt er die Widerstandsbewegung gegen die Briten an. Die britische Regierung steht der friedlichen Revolution völlig ratlos gegenüber, selbst Masseninhaftierungen bleiben wirkungslos.
1947 wird Indien unabhängig
Der britische Premierminister Winston Churchill nennt Gandhi einen "aufrührerischen, nackten Fakir". 1930 führt dieser den Salzmarsch an, bei dem die Inder den freien Zugang zum Meer fordern, um dort selbst Salz gewinnen zu können. Als sie versuchen, die Darshana-Salzbergwerke zu betreten, knüppeln die Briten die friedlichen Demonstranten nieder - vor den Augen der Weltpresse.
Großbritannien verliert sein Gesicht. Am 15. August 1947 wird Britisch-Indien unabhängig - allerdings als geteiltes Land. In Indien sollen mehrheitlich Hindus leben, in Pakistan Muslime. Dafür müssen fünf Millionen Sikhs und Hindus nun die pakistanische Hälfte des Pandschab verlassen; über fünf Millionen Muslime befinden sich noch in der indischen Hälfte. Bei der einsetzenden Fluchtbewegung fallen Hindus und Muslime übereinander her.
Am 30. Januar 1948 wird der "Apostel der Gewaltlosigkeit" selbst Opfer enthemmter Gewalt: 78-jährig wird Gandhi vom fanatischen Anhänger einer nationalistischen Hinduorganisation erschossen.
Unter der Regierung des indischen Premierministers Narendra Modi und seiner BJP-Partei geraten Andersgläubige und Andersdenkende unter Druck. Nur Hindus sollen in Indien herrschen.
Heute scheinen seine Ideale in seiner Heimat nicht mehr viel wert zu sein. Seit Jahren erlebt Indien die größten gesellschaftlichen und politischen Umbrüche seit seiner Unabhängigkeit: Hindu-Nationalisten streben einen hinduistischen Gottesstaat an; Aggressionen gegen religiöse Minderheiten nehmen zu. So beklagen katholische Bischöfe in Indien immer wieder Gewalt von Hindu-Nationalisten gegen Christen. Die regierende hindunationalistische Indische Volkspartei BJP gilt als politischer Arm von Hindu-Fundamentalisten.
Die größte Demokratie der Welt wird 75 und ist weit entfernt von Gandhis Idealen, geprägt von Hindu-Nationalismus, Gewalt gegen Minderheiten und riesigen Umweltproblemen.