Tut Deutschland genug für die Ukraine? Und was erwarten Länder wie Polen von Westeuropa mit Blick auf Sicherheitsgarantien? Die Sicherheitsexpertin Justyna Gotkowska im Interview.
Die Wissenschaftlerin vom Zentrum für Oststudien (OSW) in Warschau Justyna Gotkowska sagt, Deutschland engagiere sich aus polnischer Sicht nicht genug für die Ukraine. Russland sollte militärisch und wirtschaftlich so geschwächt werden, dass es nicht mehr in der Lage ist, Kriege zu führen. Nur das würde Sicherheit auch für den Rest Europas garantieren.
ZDFheute: Was erwarten Länder wie Polen von den Westeuropäischen Ländern mit Blick auf Sicherheitsgarantien für die Ukraine?
Justyna Gotkowska: Polen erwartet, dass die Ukraine genug Waffen bekommt, um russische Truppen aus dem ukrainischen Territorium zurückzudrängen. Dem Westen sollte alles daran liegen, dass Russland politisch, wirtschaftlich, militärisch, so geschwächt wird, dass es nicht im Stande ist, weiter Kriege zu führen. Das ist die beste Sicherheitsgarantie für die Ukraine.
ZDFheute: Wie betrachten Sie die bisherige Ukraine-Politik Westeuropas, und vor allem Deutschlands, seit dem russischem Angriff?
Gotkowska: Also das widerspiegelt sich in der deutschen Rhetorik, die besagt, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf. Es ergibt sich ein Bild, dass Deutschland eine Kompromisslösung will, wo Russland Teile des ukrainischen Territoriums weiter okkupiert, und wo die Ukraine irgendwelche Zugeständnisse seitens Russlands abgibt. Das bedeutet ein Kompromiss zugunsten Russlands, und der wird leider diesen Krieg nicht beenden, weil Russland die ganze Ukraine bezwingen will.
ZDFheute: Wie groß ist heute die Sorge, dass Polen nächstes Ziel einer russischen Invasion werden könnte?
Gotkowska: Ich glaube, man ist hier nicht besorgt, dass Russland in den kommenden Monaten Polen angreift. Aber man schließt ein schlimmstes Szenario nicht aus: wenn es möglich wäre, dass Russland sich ökonomisch, wirtschaftlich und auch militärisch erholt, wenn Putin und dieses Regime an der Macht bleiben und Moskau in ein paar Jahren ein Fenster der Möglichkeit sieht, dann riskieren sie vielleicht auch eine militärische Operation. Polen schließt keine Szenarien aus, auch solche nicht, wo Russland in ein paar Jahren Polen oder baltische Länder angreift.
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ZDFheute: Welche Mittel hätte Polen, um einen eventuellen Angriff abzuwehren?
Gotkowska: Das Ziel Polens und der baltischen Staaten ist es, die Nato-Präsenz, die militärische Präsenz an der Ostflanke, möglichst groß zu halten und zu vergrößern, um eine glaubwürdige Abschreckung zu garantieren. Polens Mitgliedschaft in der Nato ist ein Pfeiler der polnischen Sicherheitspolitik, neben dem, was Polen alleine macht, also Investitionen in eigene nationale Streitkräfte.
ZDFheute: Was erklärt das starke Engagement Polens für die Ukraine?
Gotkowska: Wenn die Ukraine diesen Kampf verliert, öffnen sich die Möglichkeiten für Russland, weitere Aggressionen vorzunehmen, vielleicht auch gegenüber den Verbündeten an der Ostflanke. Ein Teil der Länder in Westeuropa versteht das nicht oder sieht diesen Krieg als einen Krieg, der irgendwo da im Osten passiert.
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ZDFheute: Befürchten Sie, dass die weltweit große Solidarität mit der Ukraine brechen könnte?
Gotkowska: Selbstverständlich ist diese Gefahr da und man sieht, dass die ökonomischen Sorgen beginnen, diesen Diskurs in Westeuropa zu dominieren. Aber was wir ja immer noch sehen ist eine starke, politische, wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine. Also auch die USA haben auf dem Nato-Gipfel in Madrid weitere Unterstützung deklariert und weitere Waffenlieferungen sollten kommen.
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Das ukrainische Außenministerium distanziert sich von Aussagen seines Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk. Polen hatte dessen Aussagen zu einem Partisanenführer kritisiert.
ZDFheute: Polen und die Ukraine hatten in den 1940er Jahren eine schwierige gemeinsame Geschichte. Sind diese Themen gerade ausgeräumt?
Gotkowska: Über Geschichte haben wir mit den Ukrainern diskutiert und wir werden weiterhin in der Zukunft diskutieren. Nur was die Ukraine jetzt dringend braucht sind nicht Diskussionen über Geschichte, sondern weitere Waffenlieferungen.
Diese Missverständnisse, die die Aussagen vom ukrainischen Botschafter in Berlin hervorgerufen haben, wurden sehr schnell von der ukrainischen und polnischen Regierung ausgeräumt. Das zeigt, dass beide Seiten wissen, was die Prioritäten sind.
Das Interview führte Roman Krysztofiak aus dem ZDF-Studio Warschau.
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