Iran-Proteste: Sturz der Regierung realistische Möglichkeit?
Interview
Proteste im Iran dauern an:Experte: Regierung "mit dem Rücken zur Wand"
07.10.2022 | 17:01
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Die Proteste im Iran dauern an. Iran-Experte Cornelius Adebahr über die Gewalt des Regimes - und warum er nicht mit einem schnellen Zusammenbruch des politischen Systems rechnet.
Proteste in der iranischen Hauptstadt Teheran im September. (Archivbild)
Quelle: dpa
Bei den systemkritischen Protesten im Iran steigt die Zahl der Todesopfer weiter. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hatte am Donnerstag mitgeteilt, alleine im Südosten des Landes seien bei der Niederschlagung von Protesten 82 Menschen von Sicherheitskräften getötet worden, darunter Kinder. Sicherheitskräfte hätten in der Stadt Sadehan am vergangenen Freitag mit scharfer Munition und Tränengas auf Demonstranten und Umstehende geschossen.
Die Organisation Iran Human Rights mit Sitz in New York warf den Behörden ein gezieltes Vorgehen gegen Journalisten und Menschenrechtler vor - mindestens 92 Akteure der Zivilgesellschaft seien unter den mehr als 1.200 Verhafteten, die die Organisation seit dem 22. September gezählt hat. Die tatsächliche Zahl der Verhaftungen sei jedoch wahrscheinlich viel höher, so die Organisation.
Cornelius Adebahr, Iran-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), schätzt für ZDFheute den aktuellen Verlauf der Proteste ein.
ZDFheute: Wie umfangreich sind die Proteste inzwischen - und was unterscheidet sie von früheren Protestwellen?
Cornelius Adebahr: Über die Zahlen der Protestierenden gibt es keine verlässlichen Angaben, aber was wir sehen, ist, dass sich die Proteste im ganzen Land verbreiten. Ausgehend vom gewaltsamen Tod der jungen Mahsa Amini gehen Menschen aus allen Schichten in verschiedenen Teilen des Iran auf die Straße und zeigen ihre Verachtung für das System der Islamischen Republik.
Das ist anders als bei früheren Protestwellen, wie beispielsweise der Grünen Bewegung von 2009, die politischer und auf die Hauptstadt konzentriert war. Oder die Ausschreitungen zwischen 2017 und 2019, die mehr von der wirtschaftlichen Verzweiflung der ärmeren Schichten getragen war.
"Die junge Generation ist nicht bereit, sich ihre Zukunft nehmen zu lassen wie ihre Eltern", so ZDF-Korrespondent Luc Walpot und berichtet von immer mehr "Schülerinnen auf der Straße".05.10.2022 | 2:52 min
ZDFheute: Wie laufen die Porteste ab? Gibt es Strukturen und Organisationen dahinter?
Adebahr: Bislang gibt es keine Führung, sondern es handelt sich um spontane, oftmals lokale Proteste. So können sich die Menschen auch ohne Internet, beziehungsweise über die verbleibenden Kommunikationsmöglichkeiten, koordinieren. Tagsüber, also "zu den Geschäftszeiten", schaltet die Regierung das Internet immer wieder an, da ja auch Unternehmen und staatliche Institutionen darauf angewiesen sind. Das erlaubt Aktivistinnen und Aktivisten dann auch beispielsweise, über verschlüsselte Kanäle Bilder und Videos zu verschicken.
Quelle: DGAP
... ist Politikwissenschaftler und Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt sind die EU-Außenbeziehungen und der Iran. Zwischen 2011 und 2016 lebte er in Teheran und Washington. 2017 erschien sein Buch "Europa and Iran: The Nuclear Deal and Beyond", 2018 veröffentlichte er "Inside Iran - Alte Nation, neue Macht?".
ZDFheute: Vor allem im Südosten gab es bereits viele Todesopfer. Rechnen Sie mit einer weiteren Zunahme der Gewalt?
Adebahr: Die iranische Führung ist nicht dafür bekannt, Zugeständnisse in Systemfragen zu machen, wie der Kopftuchzwang für Frauen - als sichtbarstes Zeichen ihrer Unterdrückung - eine ist.
In den vergangenen Jahren hat sich bewiesen, dass selbst Hunderte Tote kein Grund für Zurückhaltung beim Einsatz der Sicherheitskräfte sind.
Cornelius Adebahr, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
Eher noch ist zu beobachten, dass das Regime seine Möglichkeiten zur Niederschlagung von Protesten verbessert hat – siehe die "präventive" Festnahme von Anwält*innen, Journalist*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, um die Bewegung im Keim zu ersticken.
ZDFheute: Wie würden Sie die Reaktion der Regierung beschreiben? Eher überfordert oder brutal überlegt?
Adebahr: "Brutal überfordert" könnte passen, aber vor allem mit dem Rücken zur Wand: Je gewaltsamer die Niederschlagung ist, je mehr Tote es gibt, desto weniger werden die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen. Wer jetzt schon blutige Hände hat, wird alles daran setzen, die Proteste zu zerschlagen, da er weder – im Falle eines Einlenkens – als Bauernopfer dastehen, noch nach einem möglichen Umsturz zur Rechenschaft gezogen werden will.
ZDFheute: Kann die Protestwelle sogar zu einem Sturz des Systems führen? Welcher Ausgang zeichnet sich aktuell ab?
Adebahr: Natürlich kann dies der Anfang vom Ende der Islamischen Republik sein, weshalb ja auch immer wieder Parallelen zum Jahr 1978 als dem Beginn der Islamischen Revolution gezogen werden. Nur gab es damals bereits einen Anführer im Exil, der sich über die Moscheen und den Klerus auf Strukturen im Land stützen konnte. Hiervon sind wir im heutigen Iran weit entfernt.
Insofern ist eher mit weiter anhaltenden Protesten und einer womöglich breiten Instabilität des Landes zu rechnen als mit einem schnellen und - aus hiesiger Sicht - glücklichen Ende.
Cornelius Adebahr, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
Demonstranten auf der ganzen Welt singen "Bella Ciao" - auch im Iran ist das jahrzehntealte Lied zum Symbol der Proteste gegen das Regime geworden. Doch wo liegen seine Wurzeln?