Hunderte gehen im Iran gegen die Regierung auf die Straße. Einen Umsturz halten Experten für weniger wahrscheinlich. Können sich aber langfristige Veränderungen vorstellen.
Seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in Polizeigewahrsam gehen Tausende im Iran auf die Straße. Viele Frauen protestieren gegen die Kleiderordung und verbrennen ihr Kopftuch. Verschiedene Schichten der Bevölkerung beteiligen sich - auch Teile der Mittelschicht, erklärt Politologin Azadeh Zamirirad bei ZDFheute live. "Da ist sehr viel Dynamik in dieser Bewegung", analysiert sie.
Es gebe eine besondere, emotionale Komponente wegen des persönlichen Schicksals "dieser jungen Frau, die so tragisch aus dem Leben gerissen worden ist", so Zamirirad. Das unterscheide die aktuellen Proteste von den in den vergangenen Jahren, beispielsweise gegen die schlechte wirtschaftliche Lage.
Politologin: Viele Iraner und Iranerinnen sind gegen Kopftuchzwang
Es gehen aber nicht nur Menschen auf die Straße, die gegen die Regierung und die Sittenpolizei sind. Am Freitag demonstrierten auch Regierungstreue und kritisierten die Frauen, die ihre Kopftücher verbrannten. Politologin Zamirirad glaubt aber, "dass ein Großteil der iranischen Gesellschaft gegen den Kopftuchzwang ist." Darauf wiesen sogar iranische Erhebungen hin.
"Das heißt, dass nicht nur eine ganze Reihe von Frauen innerhalb der iranischen Gesellschaft gegen die Kopftuchpflicht sind, sondern auch eine ganze Reihe von Männern." Auch einige Frauen, die selbst Kopftuch tragen, finden einen Zwang laut Zamirirad nicht sinnvoll.
Das Kopftuch hat dabei laut Zamirirad eine symbolische Funktion. "Es steht eben sinnbildlich auch für inneriranischen Kulturkämpfe, die wir ausgetragen sehen."
Haben die Proteste Potenzial für einen Umsturz im Iran?
Azadeh Zamirirad glaubt, "dass es immer, wenn es zu Protesten im Iran kommt - gerade zu Massenprotesten - ein gewisses Potenzial für stärkere, größere Umwälzungen gibt." Allerdings habe der Staat effektive Maßnahmen Proteste niederzuschlagen und habe sie in der Vergangenheit effektiv eingesetzt.
Auch ZDF-Korrespondent Jörg Brase, der bis vor Kurzem im Iran war, befürchtet, dass die Proteste brutal niedergeschlagen werden könnten. Denn das Regime werde ihm zufolge alles daran setzen, die Demos zu stoppen. Irans Streitkräfte hatten am Freitag aufs Schärfste vor einer Störung der Sicherheit im Land gewarnt. Auch der Geheimdienst warnte vor einer Teilnahme an "illegalen Versammlungen".
Experten halten Reformen im Iran für möglich
Politologin Zamirirad glaubt, dass es unabhängig von einem möglichen Umsturz zu langfristigen Entwicklungen kommen kann. Die Debatte werde ihr zufolge nicht nur auf der Straße, sondern in der Öffentlichkeit und in der Politik geführt.
ZDF-Korrespondent Brase zweifelt daran, dass eine Mehrheit im Iran für einen Umsturz ist. Aber viele wollen Reformen, so Brase. Das Neue an der Bewegung sei, dass der Tod von Mahsa Amini so viele schockiert habe, dass auch Menschen aus dem konservativen Lager auf die Straße gehen. Sie hätten sonst vielleicht nicht gegen die Regierung demonstriert.
Es könnte aber Potential geben, Reformen im Parlament zu diskutieren, berichtet Brase. Beispielsweise könnte die Sittenpolizei in ihren Kompetenzen eingeschränkt werden: "Dass sie nicht mehr so hart gegen Frauen vorgehen sollen, dass Verstöße gegen den Kopftuchzwang nicht mehr kriminalisiert werden."
Es scheint Diskussionen um die Regeln zu geben, so Brase. "Aber es geht nicht grundsätzlich darum, das Kopftuch abzuschaffen. Und vor allem geht es nicht darum, die Regierung zu stürzen."
Wie iranische Staatsmedien am Samstag berichten, ist die Zahl der Todesopfer bei den jüngsten Unruhen auf 35 gestiegen. Aktivisten gingen schon am Freitag von mindestens 50 Toten aus.