Ramadan, Jerusalemtag, angedrohte Zwangsräumungen - viele Faktoren kamen in Israel zusammen und lösten die schwerste Gewalt am Tempelberg seit Jahren aus. Wie geht es jetzt weiter?
Auch am Montag gab es in Jerusalem schwere Ausschreitungen zwischen palästinensischen Demonstranten und israelischen Sicherheitskräften. Schwerpunkt der Gewalt war der Tempelberg (arabisch Haram al-Scharif) in der Altstadt, der für Juden wie Muslime heilige Orte umfasst.
Was ist am Montag genau passiert?
Am Montag beging Israel den Jerusalemtag - einen Feiertag, der die israelische Kontrolle über Jerusalems Altstadt feiert und der insbesondere für jüdische Siedler eine große Bedeutung hat. Spannungen wurden von allen Seiten erwartet.
Palästinensische Demonstranten warfen Steine. Israelische Sicherheitskräfte setzten Tränengas und Blendgranaten im Komplex der al-Aqsa-Moschee ein, in dem sich anlässlich des Fastenmonats Ramadan auch Menschen zum Gebet versammelt hatten. Nach Angaben des Palästinensischen Roten Halbmonds wurden allein am Montag 305 Palästinenser verletzt, wie auch laut Behördenangaben 21 Polizisten.
Am späten Nachmittag gab es in Jerusalem und nahe der Grenze nach Gaza Raketenalarm. Mehrere Raketen wurden vom israelischen Militär abgefangen und das Parlament vorsorglich geräumt. Die radikal-islamische Hamas bekannte sich zu den Angriffen und sprach von einer "Reaktion auf (...) Verbrechen und Aggression gegen die heilige Stadt". Bei Luftangriffen der israelischen Streitkräfte wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza am frühen Abend neun Personen getötet. Israel bestätigte einen Luftschlag in Gaza und sprach von einer gezielten Tötung dreier Hamas-Kommandeure.
Aufregung gab es auch um einen Vorfall nahe dem sogenannten Löwentor am Rande der Altstadt. Palästinensische Jugendliche bewarfen ein Fahrzeug mit Steinen, das daraufhin einen Demonstranten erfasste, ein Polizist musste den Fahrer anschließend vor der Menge beschützen. Viele Internetnutzer, darunter auch große Medien aus dem Nahen Osten, verbreiten gekürzte oder zugespitzte Versionen des Videos, um dem jüdischen Fahrer eine bislang nicht belegte Absicht zu unterstellen.
Warum eskalierte die Gewalt jetzt?
Es sind die heftigsten Ausschreitungen in Jerusalem seit Jahren und die Auslöser reichen teils lange zurück. Seit mehr als einem Jahrzehnt ringen Anwohner des ost-jerusalemer Viertels Scheich Dscharrah vor Gericht mit jüdischen Siedlern um Land und Häuser. Es drohen Zwangsräumungen. Für Montag war eigentlich ein Gerichtstermin angekündigt, der in Reaktion auf die Proteste jedoch vertagt wurde.
Das Viertel hat eine symbolische Bedeutung, steht in den Augen vieler Palästinenser inzwischen stellvertretend für ganz Jerusalem - und Jerusalem stellvertretend für Palästina oder sogar die gesamte arabische Welt. Vor allem im Ramadan motivieren solche Narrative um Unterdrückung und Gerechtigkeit viele palästinensische Jugendliche zum Handeln - teils friedlich, teils gewalttätig.
Demonstrationen von Aktivisten hatten in den vergangenen Wochen immer mehr Menschen mobilisiert und endeten schon mehrfach in Straßenschlachten mit der Polizei. "Seit Beginn des Ramadan und den Zusammenstößen von Arabern und Juden in der Altstadt haben wir einen stetigen Anstieg der Spannungen erlebt", berichtet Dr. Michael Milshtein, Leiter des Forums für Palästinensische Studien an der Universität Tel Aviv, gegenüber ZDFheute.
Andere Gründe, wie die Frustration der Palästinenser über die Wirtschaftslage und die für den 22. Mai geplanten, aber verschobenen Wahlen würden laut Milshtein eine zusätzliche, sekundäre Rolle spielen.
Wie steht die palästinensische Politik zu den Protesten?
Die von der Fatah geführte palästinensische Autonomieverwaltung unterstützt die Proteste politisch. Hussein al-Sheikh, Mitglied im Fatah-Zentralkomitee, nannte das Vorgehen der israelischen Sicherheitskräfte am Montag eine "abscheuliche Aggression".
Für den Experten Milshtein ist die Autonomiebehörde aber in einer Zwickmühle: "Es ist eine Catch-22-Situation. Die Eskalation hilft ihr, die öffentliche Frustration wegen der verschobenen Wahlen auf Israel zu lenken - umgekehrt ist es für ihre Rivalin Hamas eine Gelegenheit, ihre Macht im gesamten Palästinensergebiet auszubauen." Palästinenserpräsident Mahmud Abbas unterstütze die Proteste, wolle aber gleichzeitig sicherstellen, dass sie nicht auf andere Gebiete übergreifen.
"Die Hamas hat die eindeutige Motivation, Gewalt anzuheizen, um so den Widerstand im Westjordanland zu stärken - daran scheitert sie seit einem Jahrzehnt", sagt Milshtein ZDFheute am Mittag.
Wie geht es in den nächsten Tagen weiter?
Der Fastenmonat Ramadan endet diese Woche mit dem Fest des Fastenbrechens am Mittwoch und Donnerstag. Am Samstag erinnern viele Palästinenser am Nakba-Tag an die Vertreibungen in Folge des arabisch-israelischen Kriegs von 1947 bis 1949.
Obwohl die kommenden Tage also Anlass für weitere gewaltsame Proteste bieten, war Experte Milshtein am Mittag noch vorsichtig optimistisch: "Sollte der Montag ohne tragische Vorfälle, Opfer auf beiden Seiten oder eine große Zahl von Raketen aus Gaza zu Ende gehen, werden die Spannungen bis Donnerstag langsam abnehmen." Mit einem umsichtigen Vorgehen könne Israel viel dazu beitragen, hofft Milshtein.
Am Abend hatte sich diese Hoffnung angesichts der Raketen und Luftschlägen aber bereits zerschlagen. "Leider war ich zu optimistisch", ergänzt Milshtein auf Nachfrage.
"Israel muss seine abschreckende Wirkung auf die Hamas unter Beweis stellen", beschreibt Milshtein, der bis 2018 die Abteilung für Palästinenser-Angelegenheiten im israelischen Militärgeheimdienst Aman geleitet hat, die neue Lage.
Transparenzhinweis, 11.05.2021, 8:30 Uhr: Nach der Eskalation am Abend und in der Nacht hat sich der Autor erneut mit Dr. Michael Milshtein ausgetauscht. Er bezeichnete seine zunächst geäußerte Hoffnung auf eine graduelle Abnahme der Gewalt als "zu optimistisch". Der Text wurde um seine aktualisierten Einschätzungen erweitert.
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