Die Gewalt in Israel und Palästina ruft Online-Aktivisten aus aller Welt auf den Plan. Die Kommentarspalten sind voll Hass und Unverständnis. Beobachter fordern verbale Abrüstung.
Jede Eskalation der Gewalt in Israel und Palästina führt unweigerlich auch zu Debatten und Hass in den sozialen Medien: Flaggen, Solidaritätsbekundungen, Beschimpfungen - vieles davon durchritualisiert.
Mehr als viele andere Konflikte zieht der Nahost-Konflikt Kommentare und Online-Aktivismus aus dem Ausland an, auch aus Deutschland. Unter Hashtags wie #SaveSheikhJarrah oder #StandWithUs organisieren sich rivalisierende Kampagnen - teils angeheizt von Influencern, Lobby-Gruppen oder großen Medienseiten. Auch auf den Social-Media-Seiten von ZDFheute müssen vermehrt Hass-Nachrichten gelöscht werden.
Echte und vorgeschobene Solidarität
Manche, die den Konflikt gewollt oder ungewollt schon lange verfolgen, sehen diese Polarisierung kritisch und fordern Tastatur-Krieger aller Seiten zur Zurückhaltung auf:
"Teils wird Solidarität mit Israel in Deutschland missbraucht. Manche übertragen ihre Ressentiments gegen Muslime auf die Palästinenserinnen und Palästinenser", sagt Ruben Gerczikow, Vize-Präsident der European Union of Jewish Students, zu ZDFheute. Oft ginge das von Unbeteiligten aus, die weder jüdisch noch israelisch seien, so Gerczikow. "Und umgekehrt projizieren andere ihren Antisemitismus auf Israel."
Ausgewogenheit fehlt in vielen Beiträgen
Auch angesichts der jahrzehntelangen Vorgeschichte des Konflikts sollten Nutzer Inhalte in den sozialen Medien kritisch hinterfragen: "Wer steht hinter einem Posting, wer verbreitet das? Wir befinden uns in einem Informationskrieg. Oft zeigen Accounts nur eine Seite und ich halte es für gefährlich, sich etwa nur auf Basis einzelner Videosequenzen eine Meinung zu bilden. So trägt man nur noch weiter zum Anheizen bei."
Besonders irritiert Gerczikow, dass aktuell von vielen Jüdinnen und Juden in Deutschland erwartet werde, dass sie sich zum Konflikt positionierten. "Wir Jüdinnen und Juden in Deutschland werden in diese Rolle gedrängt, uns dazu äußern zu müssen. Viele Leute können oder wollen keinen Unterschied zwischen Israel und Judentum in Deutschland machen." Die jüdische Gemeinde in Deutschland sei kein homogener Block, der sich kollektiv äußern oder distanzieren könne.
Warum eine Nahost-Kennerin Debatten inzwischen meidet
Auch das Leben von Wiebke Eden-Fleig wird vom Nahost-Konflikt bestimmt. Die Hamburgerin ist Leiterin der Kinderhilfsorganisation "just childhood" im palästinensischen Flüchtlingslager Schatila in Beirut, der Hauptstadt des Libanon.
Bei ihr hätten die hitzigen Nahost-Debatten dazu geführt, dass sie sich inzwischen kaum noch mit der "anderen Seite" befasse, sagt sie ZDFheute. "Ich halte es einfach nicht mehr aus. Ich habe zu viele Jahre mit erhitzen Diskussionen verbracht, die immer und immer wieder mit gleichen Argumenten geführt werden."
Zu wenige Stimmen von vor Ort
Ihre Wahrnehmung sei, dass Kritik an der Besatzungspolitik latent mit Antisemitismus gleichgesetzt werde: "Ganz ehrlich ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich mich zensiere, obwohl meine Meinung ganz und gar nicht radikal ist. Aber ich denke oft an die Finanzierung meiner Projekte, muss abwägen, was ich laut sage, und was nicht", berichtet Eden-Fleig.
Und es sei ein Problem, sagt Eden-Fleig, dass in den Debatten zu selten die Menschen vorkämen, die in dem Konflikt lebten - anstelle der "Zaungäste" etwa aus Deutschland.
Sorge vor antisemitischer Gewalt in Deutschland
Auch viele Israel-Kritiker im Internet fühlen sich fälschlich als Antisemiten dargestellt. "Es gibt das Problem, völlig unabhängig vom aktuellen Konflikt, dass antisemitische Chiffren und Codes nicht gesehen werden. Antisemitismus beginnt oft erst bei sechs Millionen getöteten Jüdinnen und Juden oder wenn jemand 'Scheiß-Jude' sagt", betont Gerczikow. Antisemitismus trete aber meist weniger offensiv auf.
"Das sieht man auch an der Debatte um Hans-Georg Maaßen, der von 'Globalisten' gesprochen hat. Aber auch der Begriff 'Kindermörder Israel' ist antisemitisch konnotiert. Es ist kein Zufall, dass solche Wörter auch von Neonazi-Parteien genutzt werden", erklärt Gerczikow.
Gerczikow wünscht sich insgesamt weniger Meinungen aus Deutschland zum Nahost-Konflikt. "Müssen alle Internetnutzerinnen und Internetnutzer etwas dazu sagen? Es ist sehr einfach, von Deutschland aus eine starke Meinung zum Konflikt zu haben. Die Gewalt ist weit weg."
Seine Sorge ist, dass diese aufgeheizte Stimmung auch bei anstehenden Demonstrationen etwa zum Nakba-Tag am Samstag wie bereits bei der Eskalation 2014 zu Antisemitismus und Angriffen auf deutschen Straßen führen könnten. "Die Sicherheitsbehörden", fordert Gerczikow, "müssen das im Blick haben".
- Maaßen weist Antisemitismus-Vorwurf zurück
Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer wirft Ex-Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen Antisemitismus vor. Maaßen verteidigt sich, Unions-Kanzlerkandidat Laschet springt ihm bei.