Vor einhundert Jahren wurde die Republik Türkei gegründet. Seitdem prägen ethnische, politische und religiöse Konflikte ihre Geschichte.17.10.2023 | 29:07 min
Dass es
Recep Tayyip Erdogan ein Anliegen war, die Feiern zum 100. Jahrestag der Republik als Präsident ausrichten zu können, darf als gesichert gelten. Nach der erfolgreichen Wiederwahl Ende Mai ist ihm das nun tatsächlich vergönnt, doch den Blickwinkel auf diesen Feiertag hatte Erdogan schon vorher klar gemacht: Der Blick gehe nicht zurück, sondern nach vorn in ein "neues Jahrhundert der
Türkei."
Unter die "Top 10" der Wirtschaftsnationen will er sein Land führen. Erdogan sieht sich als Anführer und Schutzpatron der muslimischen Welt. Bescheidenheit ist seine Sache nicht, und so steckt er sich und der Nation hohe Ziele.
Kritik an Erdogan für Umgang mit Atatürks Erbe
Kritiker beklagen dagegen, dass Erdogan zum Jahrestag das Land gespalten und viele Errungenschaften von Staatsgründer Atatürk rückgängig gemacht habe. Allen voran die Trennung von Religion und Staat (Laizismus). Sichtbarstes Zeichen dafür ist wohl die Rückumwandlung der
Hagia Sophia von einem Museum in eine Moschee im Juli 2020. Damit hob Erdogan demonstrativ eine Maßnahme von Staatsgründer Atatürk auf, mit hohem Symbolwert.
"Erdogan ist gegenüber dem Laizismus voreingenommen. Er glaubt nicht an eine Religionsreform", sagt Türker Ertürk, ehemaliger Kommandeur der Schwarzmeerflotte, glühender Kemalist und Mitglied der Oppositionspartei CHP. Auch Erdogans Maßnahmen gegen Regimegegner nach dem
Putschversuch vom Juli 2016 sind für Ertürk mit den Idealen des Staatsgründers unvereinbar. Die Massenverhaftungen seien "der Versuch gewesen, den Staat unter seine eigene Kontrolle zu bringen". Damit sei das Militär, einst Hüter der Republik, entmachtet worden, kritisiert Ertürk.
Erdogan: Von seinen Anhängern gefeiert
Erdogans Anhänger feiern ihren Präsidenten jedoch als starken Mann, der die Türkei wieder auf die Karte der Weltpolitik gesetzt habe. Und der muslimischen Frauen in der Türkei wieder zu ihren Rechten verholfen habe. So jedenfalls sieht es Fatma Bostan, Hausfrau aus einem kleinen Dorf in den Teeplantagen der Provinz Rize am Schwarzen Meer.
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Als sie vor wenigen Jahren ihren Sohn im Krankenhaus besuchen wollte, habe man sie nicht vorgelassen, weil sie ein Kopftuch trage und das in öffentlichen Gebäuden damals noch verboten war. "Sie wollten, dass ich das Kopftuch abziehe," sagt Bostan, "doch ich bin standhaft geblieben. Müssen wir heute noch dafür kämpfen? Nein."
Ist die Türkei zu konservativ?
Andere, wie die 22-jährige Studentin Alkım Şirek, sehen diese Entwicklung mit Sorge. Die Türkei sei konservativer geworden, beklagt sie. Ihre Mutter habe ihr von öffentlichen Partys auf dem Taksim-Platz in den 1990er Jahren erzählt. Das sei heute kaum noch denkbar.
Heute müsse sie sich genau überlegen, wie sie sich anziehe, um nicht angefeindet zu werden. "Das hat alles mit dem konservativen Regime zu tun," meint Şirek. Andererseits sind Errungenschaften der Republik Atatürks wie die Gleichstellung der Frau in Ausbildung und Beruf für junge Leute wie sie mittlerweile Normalität.
Hohe Lebenshaltungskosten bereiten Menschen Sorgen
Was jungen Leuten wie Alkım Şirek und ihrer Freundin Cigdem Sevim dagegen Angst macht, sind die hohen Lebenshaltungskosten. "Ich wollte mit meinem Freund zusammenziehen", sagt Sevim, "doch ohne die Hilfe unserer Eltern könnten wir uns das im Moment nicht leisten. Aber das wollen wir nicht. Wir haben einen Berufsabschluss und wollen auf eigenen Beinen stehen." Alkım Şirek denkt deshalb über eine Karriere im Ausland nach. "Ich möchte im Ausland promovieren. Ob ich danach in die Türkei zurückkehre, dahinter steht noch ein Fragezeichen."
"Wir feiern, aber wir sind traurig", sagt der 82-jährige überzeugte Kemalist Necati Inci. Andere dagegen werden den Jahrestag überschwänglich feiern. Dieser Streit zwischen unterschiedlichen Positionen zieht sich allerdings wie ein roter Faden durch einhundert Jahre türkische Republik.
„Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“
1997 zitiert Erdogan, damals Bürgermeister von Istanbul, diese Zeilen eines Gedichts und wird daraufhin wegen „religiöser Volksverhetzung“ zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt.
Quelle: dpa