Verbrechen an Jesiden: "Justiz vor großen Schwierigkeiten"

    Interview

    Verbrechen an Jesiden:"Justiz vor großen Schwierigkeiten"

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    Der Bundestag hat IS-Verbrechen an den Jesiden als Völkermord verurteilt. Die Täter zu bestrafen, bleibt aber eine Mammutaufgabe, erklärt Strafrechtsprofessor Florian Jeßberger.

    Größtenteils menschliche Knochen liegen auf einem Massengrab nahe des Sindschar-Gebirges.
    Verbrechen gegen Jesiden: Massengrab nahe des Sindschar-Gebirges im Nordirak.
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Nach Vereinten Nationen und EU-Parlament hat nun der Deutsche Bundestag die Gräueltaten der Terrormiliz "Islamischer Staat" an den Jesiden im Nordirak als Völkermord anerkannt. Eine konkrete Hilfe für Jesidinnen und Jesiden oder eher eine symbolische Geste?
    Florian Jeßberger: Zunächst erkenne ich da eine starke symbolische Wirkung. Rechtliche Wirkung hat dieser Beschluss nicht; deutsche Strafgerichte werden sich künftig nicht auf diese Feststellung stützen. 

    Florian Jeßberger
    Quelle: Sarah Eick

    ... ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte sowie Direktor des Franz-von-Liszt-Instituts für Internationales Strafrecht der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht unter anderem zum Völkerstrafrecht und war häufig Sachverständiger für den Rechts- und Menschenrechtsausschuss des Bundestages.

    ZDFheute: Viele Tausend Jesiden sind 2014 durch IS-Terroristen verschleppt, versklavt und ermordet worden. Die Täter wurden bislang kaum belangt. Werden Ermittler IS-Verbrecher künftig intensiver verfolgen?
    Jeßberger: Der Bundestag hat die Bundesregierung in der Tat aufgefordert, die Strafverfolgung zu intensivieren. Bislang sticht vor allem ein Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main heraus: Einem Angeklagten wurde dort nachgewiesen, dass er sich des Verbrechens des Völkermordes an den Jesiden schuldig gemacht hat. Ein weltweiter Präzedenzfall. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil mit einem in dieser Woche veröffentlichen Beschluss bestätigt, was strafjuristisch von großer Bedeutung ist.
    Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main am 30.11.2021
    Das Oberlandesgericht Frankfurt hat einen IS-Anhänger im Prozess zum qualvollen Tod eines jesidischen Mädchens zu lebenslanger Haft verurteilt – im weltweit ersten Urteil wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Jesiden.30.11.2021 | 2:54 min
    ZDFheute: Als Sachverständiger haben Sie im Sommer 2022 vor dem Menschenrechtsausschuss des Bundestages darauf hingewiesen, dass die "Zerstörungsabsicht des Täters" im Einzelfall juristisch nachzuweisen sei. Vor welcher Aufgabe steht die Justiz da?
    Jeßberger: Ein Völkermord liegt im strafjuristischen Sinn nur vor, wenn der Täter in der Absicht handelt, die geschützte Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.

    Dem Täter muss diese Absicht nachgewiesen werden. Das stellt die Justiz vor große Schwierigkeiten.

    Florian Jeßberger, Strafrechtsprofessor

    Meist sind die Gerichte darauf angewiesen, diese Absicht aus äußeren Indizien abzulesen. Das gelingt oft nicht.
    ZDFheute: Inwiefern helfen den Gerichten Social-Media-Fundstücke?
    Jeßberger: Die Justiz profitiert davon, dass sich islamistische Gruppen mit bestimmten Taten auf Social-Media-Kanälen brüsten. Wenn das Material frei zugänglich ist, kann es grundsätzlich vor Gericht verwendet werden. Das ist auch mit ein Grund dafür, weshalb in Deutschland eine Reihe von Strafverfahren aus dem Syrien-Kontext bereits erfolgreich geführt werden konnten.




    ZDFheute: Einige Kommentatoren fordern nun von der Bundesregierung die Rückholung deutscher IS-Täter. Für die Opfer gebe es "ohne Rechenschaft der Täter keine Gerechtigkeit". Schließen Sie sich dieser Forderung an?
    Jeßberger: Ich würde es begrüßen, wenn mehr deutsche IS-Mitglieder in Deutschland vor Gericht gestellt würden. Ich nehme aber auch wahr, dass die deutsche Strafjustiz bereits sehr aktiv ist, was die Verfolgung dieser Straftaten betrifft. Gleichzeitig ist es so, dass sich zahlreiche mutmaßliche Täterinnen und Täter in Lagern oder Haftanstalten im Nahen Osten befinden. Hier gibt es große praktische Schwierigkeiten, diese Personen nach Deutschland zu bringen.
    ZDFheute: Welche Hürden gibt es?
    Jeßberger: Viele der Gefangenenlager befinden sich im syrischen Kurdengebiet. Das ist kein anerkannter Staat. Deshalb gibt es dorthin auch keine Rechtshilfebeziehungen, die eine Auslieferung erlauben würden.

    Völkermord ist der Rechtsbegriff für das schlimmste denkbare Verbrechen: Handlungen mit dem Ziel, ein Volk, eine Ethnie oder auch eine Glaubensgemeinschaft zu vernichten. Er ist auch unter der Bezeichnung Genozid geläufig - zusammengesetzt aus dem griechischen "genos" (Herkunft, Stamm) und der lateinischen Ableitung -cide (töten). Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin prägte den Begriff zwischen 1943 und 1944, um eine Grundlage für die Bestrafung der von den Nazis begangenen Verbrechen zu legen. Nach dem zweiten Weltkrieg, im Dezember 1948, wurde er im völkerrechtlichen Sinne in der UN-Völkermordkonvention verankert.

    Der UN-Vertrag verbietet Handlungen, mit denen eine national, ethnisch, rassisch oder religiös definierte Gruppe vernichtet werden soll. Entscheidend ist dabei nicht, ob oder wie viele Menschen getötet wurden, sondern die Absicht der Täter, eine Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Gerichte haben seither entschieden, dass auch Verbrechen wie Vergewaltigung Völkermord sein können, wenn sie mit der Vernichtungsabsicht begangen werden.

    Mit der Konvention 260 wurde der Völkermord international geächtet. Staaten sind demnach verpflichtet, Völkermord zu verhüten und zu bestrafen. Das Völkermord-Verbot ist absolut, lässt keine Abweichung zu und gilt auch für Länder, die der Konvention nicht beigetreten sind. Die Tat kann von Tribunalen wie dem Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden, aber auch von nationalen Gerichten.

    Zu den Straftatbeständen in der Völkermordkonvention gehören das Töten, das Zufügen ernsthafter körperlicher oder geistiger Schäden, das Auferlegen von Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung einer Gruppe abzielen, sowie die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung und Verschleppung von Kindern.

    Quelle: epd, AFP

    ZDFheute: Der Bundestag hat in jüngerer Vergangenheit auch die an Armeniern 1915/16 und an Ukrainern ("Holodomor") in den 1930er-Jahren verübten Verbrechen als "Völkermord" eingestuft - ein Begriff, der auf den systematischen Mord an den europäischen Juden durch die Nazis zurückgeht. Kann man das in eine Linie stellen?
    Jeßberger: Natürlich lässt sich das nicht vergleichen. Nur weil der Bundestag unterschiedliche Ereignisse mit demselben juristischen oder politisch-historischen Label versieht, erfolgt damit nicht unbedingt eine Gleichsetzung. Zwar ist der Begriff des Völkermords mit Blick auf den Holocaust geschaffen worden. Der juristische Tatbestand hat sich inzwischen aber von diesem Ursprung emanzipiert.
    Auffällig ist jedoch, in welchen Fällen der Bundestag eine Völkermord-Feststellung getroffen hat - Armenien, Holodomor, Jesiden - und in welchen nicht: etwa im Fall der Herero und Nama in Namibia.

    Da kann man sich die Frage stellen, ob es dem Bundestag leichter fällt, solch einen Entschluss zu fassen, wenn deutsche Interessen nicht unmittelbar betroffen sind.

    Florian Jeßberger, Strafrechtsprofessor

    Immerhin hat die Bundesregierung 2021 den deutschen Völkermord an den Herero und Nama als solchen anerkannt.
    Das Interview führte Marcel Burkhardt.

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