Sigmar Gabriel: "Katar nicht nur als Tankstelle verstehen"

    Interview

    Sigmar Gabriel:"Katar nicht nur als Tankstelle verstehen"

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    Deutschland dürfe Katar nicht nur als "Tankstelle“ sehen, sondern sollte das Land als Partner in der Region verstehen, sagt Sigmar Gabriel. Über den Wüstenstaat und seinen Emir.

    Küstenlandschaft Katars. Im Hintergrund sind viele gläserne Hochhäuser zu sehen, direkt an der Küste.
    Katar: Der Wüstenstaat am Golf hat es mit Öl und Gas zu einem der wohlhabendsten und einflussreichsten Länder der Welt geschafft.28.09.2022 | 44:12 min
    ZDF: Sie waren in Ihrer Funktion sowohl als Außen- als auch als Wirtschaftsminister in Katar. Was hatten Sie für einen Eindruck von diesem Land?
    Sigmar Gabriel: Katar ist ein Land, das sich um drei Dinge kümmert. Erstens ist es sehr besorgt um seine Unabhängigkeit. Es hat ein paar Nachbarn, die diese Unabhängigkeit gelegentlich in Frage stellen. Zweitens hat es ein großes Interesse an stabilen Nachbarschaften, was in der Region nicht so einfach ist.
    Und drittens versuchen sie, ein modernes Land zu werden, sich zu öffnen, sich zu verändern. Es gibt kein anderes Land in der Region, das mit den innerstaatlichen Reformen so weit gekommen ist wie Katar. Was nicht heißt, dass alles erledigt ist. Trotz der unbestreitbaren Erfolge und Fortschritte müssen vor allem die Reformen im Arbeits- und Sozialrecht für die ausländischen Beschäftigten auch überall umgesetzt und erweitert werden.

    ... war unter anderem Bundesumweltminister (2005-2009), Bundeswirtschaftsminister (2013-2017) sowie Bundesaußenminister (2017-2018). Als Wirtschaftsminister war er auch mit dem Bau der Ostseepipeline Nordstream 2 befasst.

    Gabriel wurde 2019 zum Vorsitzenden des Atlantik-Brücke e.V. gewählt. Außerdem ist Gabriel im Aufsichtsrat der Deutschen Bank.

    ZDF: Was hatten Sie für einen Eindruck von der Familie Al Thani, um die sich ja auch viele Mythen ranken?
    Gabriel: Ich kenne die Familie nicht, ich kenne ein paar Mitglieder dieser Familie. Was den Emir angeht - ich habe selten jemanden erlebt, der mit so großem Interesse zuhört, wenn über ihn, die Welt und wie sie sich bewegt, gesprochen und nachgedacht wird.

    Er ist jemand, der nicht zu denen gehört, die selbst die ganze Zeit reden, sondern eher jemand, der sehr interessiert ist an den Meinungen anderer und auch ausgesprochen offen über sein eigenes Land spricht.

    Sigmar Gabriel über den Emir von Katar

    ZDF: Und dennoch wird ja Katar immer wieder kritisiert - in Bezug auf Arbeitsbedingungen von Migranten oder Beziehungen zu islamischen Gruppierungen. Inwiefern halten Sie diese Kritik für berechtigt?
    Gabriel: Also ein in deutschen Medien immer wieder erhobener Vorwurf ist, dass die Hamas dort sitzt und auch Taliban zu finden sind. Das ausgerechnet wir diesen Vorwurf erheben, obwohl doch der Westen und vor allem die USA die Qataris darum gebeten haben, weil es Orte braucht, an denen auch mit solchen Organisationen geredet wird, finde ich schon ziemlich unangemessen.
    Die Hamas ist da, damit dort über Kataris, über die Konflikte im Gazastreifen, geredet werden kann. Dass der Westen oder die Deutschen den Kataris vorwerfen, dass sie etwas tun, worum wir sie gebeten haben, weil wir selber uns das nicht trauen - das finde ich einigermaßen absurd. Die Arbeitsbedingungen in Katar sind natürlich weiß Gott nicht so, wie wir sie uns in Europa vorstellen.
    ZDF: 2017 gab es eine Blockade der Nachbarländer gegen Katar. Wie hat sich Deutschland in dieser Zeit positioniert und wie ist das Verhältnis möglicherweise intensiviert worden?
    Gabriel: Wir haben damals als Bundesrepublik Deutschland, als Bundesregierung, eng mit den Amerikanern zusammengearbeitet. Wir hatten die Sorge, dass sich der Konflikt, der eine Wirtschaftsblockade war, zu einem militärischen Konflikt ausweiten könnte.
    Die Vorwürfe, die der Kronprinz von Saudi-Arabien und der Kronprinz der Vereinigten Arabischen Emirate gegen Katar erhoben haben, denen sind wir damals gemeinsam mit den Amerikanern nachgegangen. Und sowohl mein damaliger Kollege Tillerson als auch ich waren der Überzeugung, dass an diesen Vorwürfen nichts dran ist und dass sie nicht rechtfertigen, was dort passiert.

    Am 5. Juni 2017 haben Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Ägypten und einige verbündete Staaten ihre diplomatischen Beziehungen zu Katar abgebrochen und mit einer Teilblockade des Emirats begonnen.

    Katar sollte dadurch gezwungen werden:
    • seine Unterstützung für "terroristische" Gruppierungen zu beenden.
    • seine Politik der "Destabilisierung" anderer Länder einzustellen.

    Das Emirat wies diese Forderungen als unbegründet zurück.

    Quelle: Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

    ZDF: Wie würden Sie die bilateralen Beziehungen zwischen Katar und Deutschland aktuell beschreiben?
    Gabriel: Aktuell sind sie natürlich deshalb gut, weil die Deutschen Sorgen haben. Solange wir keine Energie-Sorgen hatten, haben wir uns nicht besonders für das Land interessiert. Das ändert sich gerade.

    Was auch kein gutes Bild auf uns Deutsche bringt, wenn wir uns nur um ein Land kümmern, wenn wir selber ein Problem haben.

    Sigmar Gabriel

    Ich finde, dass wir das Interesse Katars an der Zusammenarbeit, gerade was die Reformen angeht, aufgreifen sollten. Den Kataris zu helfen, so was wie eine Berufsgenossenschaft aufzubauen, Arbeitsunfälle zu untersuchen, Lohnkontrolle besser durchzuführen. Wir sind ein Land, in dem es all das gibt und Qatar ist ein Land, dass die bei ihm herrschenden Zustände verbessern will. Am liebsten mit Hilfe Deutschlands.
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    ZDF: Robert Habeck hat ja viel Kritik zu seinem Besuch im März dieses Jahres geerntet. Finden Sie zurecht?
    Gabriel: Nein. Robert Habeck hat das gemacht, wozu er einen Amtseid geleistet hat. Er versucht, die Deutschen vor Schaden zu bewahren. Ich hoffe, er hat damit Erfolg.
    ZDF: Die Kataris haben versucht, sich selbst auf dem Schirm der Deutschen zu halten, indem viele Investments in deutsche Unternehmen stattgefunden haben. Das ist immer wieder in den Fokus der Kritik geraten.
    Gabriel: Warum soll ich kritisieren, dass ein Land sein Geld in Deutschland anlegt? Was gibt es da zu kritisieren? Der Hintergrund ist ganz einfach: Es ist ein kleines Land, das Angst hat, dass es übersehen wird. Vielleicht sollten wir manchmal mit unseren eigenen Ansprüchen an sie ein bisschen zurückhaltend sein.
    Deutschland hat 250 Jahre gebraucht, um das Maß an Liberalität zu erreichen. Zwischendurch sind wir knietief durch Blut gewartet. Und was den Umgang mit "Gastarbeitern" angeht: ich erinnere mich gut daran, wie schlecht wir die in den 50er- und 60er-Jahren behandelt haben. Auch wir haben Zeit gebraucht, um die dringend notwendigen Reformen umzusetzen. Der Fortschritt kommt nicht über Nacht. Das sollten wir Deutschen eigentlich wissen.
    ZDF: Ein Blick in die Glaskugel: Katar nach der WM, Katar in fünf Jahren, Katar zehn Jahren? Wo geht die Reise hin?
    Gabriel: Es hängt ein bisschen davon ab, was wir tun. Wenn wir das Land danach wieder vergessen oder wenn wir uns nicht kümmern, wenn wir es als Tankstelle verstehen und nicht als einen Partner auf Augenhöhe - dann ist natürlich immer die Gefahr da, dass solche Reformen auch wieder zurückgedreht werden.
    Es gibt auch Gegner der Reformen in Qatar. Und diejenigen, die dieses Land hier jeden Tag durch den Kakao ziehen, betreiben das Geschäft dieser Reformgegner. Denn die sagen dort - seht Ihr: Wir können machen, was wir wollen, der Westen verachtet uns immer.
    ZDF: Glauben Sie, dass Katar in einer Form einen Weg in Richtung Demokratisierung einschlägt? Oder wird es ein autokratisches System?
    Gabriel: Man muss aufpassen, wie man über das Land redet. Das ist eine Monarchie, aber es ist keine Diktatur. Es gibt Partizipationsmöglichkeiten, die nicht unseren Ansprüchen entsprechen, es ist keine Demokratie im europäischen Sinn. Aber es ist eben auch nicht eine, wo hinter jedem ein Polizist steht und den Polizeistaat durchsetzt.
    Es gibt in Katar keine politischen Gefangenen. Wer mit dem System nicht einverstanden ist, zieht einfach weg.

    Das Land wird sich mit Sicherheit weiter verändern. Ob wir sehr schnell diese Art von westlicher Demokratie sehen, die uns vorschwebt, das weiß ich nicht.

    Sigmar Gabriel über Katar

    Die jungen Frauen in Katar, die den Großteil der Studierenden stellen - die werden sich nicht mit ihrer traditionellen Rolle zufriedengeben, die werden dort wesentlich mehr einfordern.
    ZDF: Und das ist möglicherweise das, was Sie vorhin gesagt haben, dass der "Westen" Blick drauf haben sollte oder Katar nicht vergessen sollte. Schließt sich der Kreis?
    Gabriel:

    Ja, ich würde vor allen Dingen dazu raten, Katar nicht nur als Tankstelle zu verstehen, die uns Erdgas bring - sondern als ein Land, das sich selbst aufmacht, sich zu verändern und dem wir dabei helfen sollten.

    Sigmar Gabriel

    Das schließt Kritik ja nicht aus. Man muss nur vorsichtig daran erinnern, dass etwa Homosexualität in Deutschland bis 1994 ein Straftatbestand war. Also auch wir haben Zeit gebraucht, um so liberal zu werden, wie wir sind.
    ZDF: Vielen Dank.
    Das Interview führte Svaantje Schröder.

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