Gegenoffensive im Ukraine-Krieg gestartet: Nahe Kiew konnte die Ukraine im strategisch wichtigen Ort Irpin Gebiete zurückerobern. Russische Truppen drohen eingekesselt zu werden.
Seit Wochen scheitern die russischen Streitkräfte daran, in die ukrainische Hauptstadt Kiew vorzustoßen. Eine neue Entwicklung der letzten 48 Stunden hat ihre Situation nochmals deutlich verschlechtert: Ukrainische Kräfte konnten den russischen Vormarsch nicht nur stoppen, sondern konnten nahe der Hauptstadt sogar zu einer Gegenoffensive übergehen. Was ist dazu bislang bekannt?
Diese Erfolge vermeldet die Ukraine
Nordwestlich von Kiew liegen die Vororte Butscha, Irpin und Hostomel - sie waren bereits kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs an Russland gefallen. Am Mittwochnachmittag verkündete die Distriktverwaltung von Butscha die drei Orte und die russischen Truppen dort seien eingekesselt.
Am Donnerstag dann die Meldung, dass Irpin zu 80 Prozent wieder von der Ukraine kontrolliert werde. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach Butscha und Irpin in einer Videobotschaft den Ehrentitel "Heldenstadt der Ukraine"zu. Das wäre eine empfindliche Niederlage für Russland.
Warum sind diese Vororte von Kiew so wichtig?
Drei Gründe sind entscheidend:
- Um Kiew zu erobern, wollte Russland einen Belagerungsring um die Millionenstadt ziehen. Ob Russland dafür überhaupt noch ausreichend Soldaten hat, wird von immer mehr Beobachtern angezweifelt. Zu viele sind in Kämpfen in anderen Landesteilen gebunden. Jetzt den einzigen bislang erfolgreichen Belagerungsabschnitt im Nordwesten zu verlieren, lässt eine Eroberung Kiews in noch größere Ferne rücken.
- Inmitten des Distrikts Butscha liegt der Flughafen Hostomel. Mehrfach wechselte dessen Kontrolle bereits zwischen beiden Kriegsparteien. Er ist ein strategisch wichtiges Ziel, die Ukraine muss auf jeden Fall verhindern, dass Russland ihn als Drehkreuz für eine Expansion im Norden nutzt.
- Die russischen Streitkräfte hatten von Anfang an mit Logistikproblemen zu kämpfen. Aller Nachschub für die Region Butscha und den Vorstoß auf Kiew muss über zwei Landstraßen nördlich von Borodyanka und Demydiv herangeschafft werden. Das sind genau die Straßen, auf denen sich der berüchtigte kilometerlange Konvoi aufgestaut hatte und es sind genau die Straßen, die die ukrainische Offensive jetzt zum Ziel hat. Tausende russische Soldaten, darunter Panzerverbände und Luftlandetruppen, wären endgültig abgeschnitten.
Gibt es Belege für einen ukrainischen Vorstoß?
Erfolgsmeldungen ukrainischer Offizieller sind eine Sache - doch inzwischen gibt es auch erste belastbare Belege für sie. Insbesondere aus Irpin liegen verschiedene Videos vor, die eine ukrainische Kontrolle über einen Großteil des Stadtgebiets bestätigen.
Eine Freiwilligeneinheit von Georgiern um den früheren georgischen Verteidigungsminister Irakly Okruashvili veröffentlichte am Donnerstag etwa mehrere Videos einer Patrouille in Irpin. Diese und andere Aufnahmen konnten von ZDFheute verifiziert werden. Sie zeigen auch ein enormes Ausmaß an Verwüstungen. Zahlreiche Häuser sind zerstört, die Gegend liegt weiterhin unter Artilleriebeschuss.
Auch Nasa-Satelliten, eigentlich zur Früherkennung von Waldbränden, weisen auf heftige Kämpfe im Butscha-Distrikt in den vergangenen 48 Stunden hin. Brennende Panzerwracks und Häuser tauchen im FIRMS-Warnsystem der Nasa auf. Im Onlineportal kann man das Vorrücken der Ukrainer nachverfolgen: Am Mittwoch gab es Brandmeldungen vor allem am südlichen Stadtrand von Irpin, am Donnerstag in der nördlichen Hälfte des Stadtgebiets.
Auch westlich des Hostomel-Flughafens aus dem Gebiet um Borodyanka meldet das Nasa-System am Mittwoch und Donnerstag ähnliche Feuer. Von dort liegen bislang aber keine Videos vor, die ukrainische Kontrolle des Ortes belegen. "Irpin wurde fast vollständig befreit, das ukrainische Militär kämpft weiter um Butscha und Hostomel", schreibt Illia Ponomarenko, Militär-Reporter beim ukrainischen Onlinemedium "Kyiv Independent".
Gänzlich zurückerobert soll Irpin aber noch nicht sein: Die "New York Times" zitiert Oleksandr Pavliuk, Chef der regionalen Militärverwaltung von Kiew, dass man seine "Position verbessert" habe, von einer Kontrolle über den Ort wollte Pavliuk anders als andere ukrainische Offizielle aber noch nicht sprechen.
"Käme es zu einem Einsatz von Chemiewaffen, würde ein Schrei laut werden", so Markus Kaim, Stiftung Wissenschaft und Politik. Die NATO würde ihre Möglichkeiten "neu kalkulieren müssen."
Was sagen Experten zu den ukrainischen Erfolgsmeldungen?
Westliche Verbündete messen den ukrainischen Erfolgen außerhalb Kiews eine hohe Bedeutung bei: "Es gibt die realistische Möglichkeit, dass ukrainische Kräfte nun in der Lage sind, russische Einheiten in Butscha und Irpin einzukesseln", schreibt der britische Militärgeheimdienst auf Twitter.
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Abgeschlossen ist diese Gegenoffensive aber noch nicht. "Die ukrainischen Gegenangriffe nordwestlich von Kiew während der letzten Tage entlasten weiterhin die Stadt", so der US-Militär-Thinktank Institute for the Study of War in seiner Tageszusammenfassung für Donnerstag. Über Irpin hinaus seien in den vergangenen 24 Stunden aber keine weiteren Geländegewinne für die Ukraine westlich von Kiew zu beobachten.
Militärjournalist Ponomarenko bleibt ebenfalls noch vorsichtig: "Ich glaube nicht, dass wir in nächster Zeit davon ausgehen sollten, die russischen Kräfte in Hostomel-Irpin-Butscha in einer Todesfalle zu sehen", schreibt er auf Twitter. Ein Kessel um die russischen Positionen nahe der Hauptstadt scheint erstmals greifbar, ist aber noch nicht ausgemachte Sache.
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