Eine Drohne filmte Schüsse auf Zivilisten. "Frontal" konnte Opfer identifizieren, mit Angehörigen und Zeugen reden. Auch Dokumente belegen Kriegsverbrechen durch russische Truppen.
Hinweis: Dieser Beitrag enthält Szenen, wie Menschen erschossen werden. Diese Bilder können verstörend sein.
Maksim Iowenko und seine Frau Ksenja hatten einmal ein Leben im Frieden. Er stammt aus der Ukraine, sie ist Russin, kommt ursprünglich von der Krim. Gemeinsam hatten sie einen Sohn, Gordej, sechs Jahre alt. Die Familie lebte in Kiew.
Fotos zeigen das Ehepaar auf einem Weihnachtsmarkt. Auf den Bildern sehen sie glücklich aus. Doch die Eheleute wurden erschossen - sie sind Opfer eines Kriegsverbrechens. Das ist ihre Geschichte:
Familie flieht nach Putins Einmarsch in der Ukraine
Als Wladimir Putin am 24. Februar 2022 seine Streitkräfte in die Ukraine einmarschieren lässt, verkündet der russische Präsident, man habe es auf die regierenden "Neonazis" in Kiew abgesehen. Zivilisten hätten nichts zu befürchten.
Familie Iowenko flieht in einen Vorort von Kiew. So schildert es der Vater von Maksim am Telefon: "Als die russische Invasion begann, waren sie zunächst noch hiergeblieben. Das war für mich kaum akzeptabel. Aber nach vier Tagen, so am 28. Februar, haben sie zusammen mit Freunden entschieden, Kiew zu verlassen und in ihrer Datsche außerhalb der Stadt zu leben."
Das Wochenendhaus liegt rund 40 Kilometer nordwestlich von Kiew. Gemeinsam mit zwölf Freunden wollten sie dort ausharren. In der Nacht hätten sie Wache gehalten, Lebensmittel und auch Wasser gab es ausreichend, erzählt Vater Sergejewitsch. "Alles war gut, bis der Beschuss des Flughafens Hostomel und des Vorortes Irpin begann." Ganz in der Nähe lag das Wochenendhaus.
Der Fluchtweg wird zur Falle
Der heftige Kampf um Irpin und den Flughafen Hostomel ist durch Fotos gut dokumentiert. Sie zeigen, wie Zivilisten versuchen, dem Granatenhagel zu entkommen. Zu Fuß, mit Evakuierungsbussen und in privaten Pkw. In ihre Autos legen die Flüchtenden weißes Papier. Auf manchen steht in russischer Schrift "djeti", übersetzt "Kinder".
Auch Maksim Iowenko und Ksenja entscheiden sich zu fliehen. Gemeinsam mit anderen Familien bilden sie einen Autokonvoi, wollen es so gemeinsam rausschaffen aus der Gefechtszone.
Am 7. März 2022 gegen Mittag fahren sie los. Es geht über Nebenstraßen zur E40, einer mehrspurigen Schnellstraße, die von Westen nach Kiew führt. Was sie nicht wissen: An der Straße stehen schon russische Truppen. Ihr Fluchtweg wird zur Falle.
Drohne filmt Erschießung von Zivilisten
Es ist 14 Uhr und 16 Minuten, als die Kamera einer ukrainischen Drohne mehrere Autos filmt, keine Militärfahrzeuge, sondern ganz normale Pkw, unterwegs Richtung Zentrum Kiew. Die ersten Fahrer bemerken offenbar die russischen Panzer und drehen ab - ein silbergraues Fahrzeug kommt ins Stocken, bleibt stehen.
Die ersten beiden Autos können noch umkehren. Dann geschieht Schreckliches. Eine Zivilperson steigt aus dem Auto, mit erhobenen Händen, und wird erschossen. Sie fällt hinter dem Auto zu Boden.
Sohn und Patentante überleben Angriff
Nun ist auch klar, wer die Opfer waren: Maksim Iowenko und seine Frau Ksenja. Sie saßen im silbernen Hyundai. Überlebt haben ihr Sohn Gordej und seine Patentante. Beide - so zeigen es die Drohnenbilder - wurden von russischen Soldaten aus dem Auto geholt und in den nahegelegenen Wald geführt.
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Später werden sie freigelassen und können sich nach Kiew zum Großvater durchschlagen. Der schildert die Schreckensnachricht: "Mein Sohn fuhr an dritter Position in dem Konvoi. Er hatte Pech, sein Motor ging aus, und er saß mitten auf der Straße fest." Dann sei er ausgestiegen, Arme über dem Kopf.
Doch da war es schon zu spät. Sein Sohn wollte am 17. März seinen 32. Geburtstag feiern, erzählt der Vater am Telefon. "Ihm haben zehn Tage gefehlt, um 32 Jahre alt zu werden." Sein sechsjähriger Enkel Gordej "versteht nicht, was passiert ist".
Zeuge berichtet von russischem Angriff auf Zivilisten
Nach der Veröffentlichung des Drohnenvideos kontaktiert ein weiterer Zeuge die Redaktion "frontal". Zuerst schickt er Fotos, darauf ein zerschossenes Auto und Munition. Wir treffen den Mann auf einem Parkplatz in einer westukrainischen Stadt kurz vor der Sperrstunde.
Weil er Zeuge eines Kriegsverbrechens ist, hat er Angst vor dem russischen Geheimdienst, will nicht erkannt werden. "Frontal" kennt seinen Namen. Es war der Fahrer des blauen Autos. Auf den Drohnenbildern ist zu sehen, wie ihm gerade noch die Flucht gelang. "Man begann, auf uns zu schießen. Ich habe die MP-Salven gehört, ganz kurze Salven. Dann stellten wir fest, dass ein Auto nicht mehr mit uns fährt, vielleicht hat er einen Motordurchschuss gehabt."
Auch sein Auto wurde getroffen. Heck und Seitenscheibe zertrümmert. Eine Kugel blieb in der Kopfstütze stecken. Im Auto saßen vier Menschen. "Die Fahrzeuge waren extra mit weißem Papier in der Frontscheibe markiert: 'Achtung Kinder'. In jedem zweiten Auto saßen Kinder."
Opfer überlegen, Anzeige gegen Angriff zu erstatten
Sie alle waren vor Gefechten rund um Irpin geflüchtet und fuhren in eine Falle. Reines Glück, dass nicht mehr Menschen zu Tode kamen. Die Drohnenbilder und Schilderungen von Augenzeugen belegen: Russische Soldaten schießen in der Ukraine gezielt auf Zivilisten. Das verstößt gegen Völkerrecht.
Es ist ein Kriegsverbrechen. Die Opfer überlegen nun, Anzeige zu erstatten. Doch ob jemals ein Soldat, ein Offizier oder gar Putin zur Verantwortung gezogen wird für dieses Verbrechen - heute scheint das ziemlich unwahrscheinlich.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.