Russische Kriegsverbrechen nahe Kiew: Die Autobahn des Todes

    Exklusiv

    Kriegsverbrechen in der Ukraine:Die Schytomyr-Autobahn: Todesfalle bei Kiew

    von Arndt Ginzel, Nils Metzger
    05.07.2022 | 20:06
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    Russische Soldaten haben Dutzende flüchtende Zivilisten an der Schytomyr-Autobahn nahe Kiew getötet. Das belegen Recherchen von ZDF frontal. Überlebende schildern die Verbrechen.

    ZDF frontal dokumentiert erstmals ein Kriegsverbrechen an ukrainischen Zivilisten mithilfe von Zeugen, Opfern und Dokumenten. Die Spuren führen zu einer russischen Armee-Einheit.07.07.2022 | 44:39 min
    Über Wochen haben Russlands Streitkräfte in den Vororten westlich von Kiew gewütet. In Butscha und Irpin starben Hunderte Zivilisten - die Bilder erschütterten die Welt. Recherchen von ZDF frontal konnten nun einen weiteren Ort russischer Kriegsverbrechen nahe Kiew identifizieren.
    Die Schytomyr-Autobahn verbindet Kiew mit den westlichen Vororten. Entlang dieser Schnellstraße wurden dutzendfach flüchtende Zivilisten von russischen Truppen beschossen und getötet. ZDF frontal sprach erstmals mit Überlebenden, sammelte neue Belege. Der zuständige Kiewer Staatsanwalt Jurij Dmytrun bestätigte:

    Ich kann mitteilen, dass auf der von russischen Angreifern kontrollierten Straße von Kiew nach Schytomyr 57 Fahrzeuge beschossen wurden. 36 tote Körper wurden gefunden, darunter waren Kinder.

    Jurij Dmytrun, Staatsanwaltschaft Kiew

    Wie die Schytomyr-Autobahn zur Frontlinie wird

    24. Februar 2022, der Tag der russischen Invasion der Ukraine. Als die ersten Raketen in Kiew einschlagen, beginnt eine Fluchtwelle aus der Hauptstadt. Ein Ziel Tausender Anwohner: die westlichen Vororte, dort haben viele Familien Ferienhäuser. So wollen sie den Bomben entkommen.
    Doch der russische Vormarsch kommt nach wenigen Tagen zum Erliegen. Ukrainische Truppen sprengen die Brücke in die Hauptstadt, die Schytomyr-Autobahn wird zur Frontlinie. Weil russische Soldaten die Straßen blockieren, sitzen die Zivilisten in den Vororten fest.

    Fall Familie Kukin: Mädchen erlebt, wie ihr Vater verbrennt

    Am 3. März entscheidet sich die Familie von Alina Kukina zur Flucht aus ihrer Datsche in der Ortschaft Dmytriwka. "Wir hatten keine Kräfte mehr, unter solchen Bedingungen dort zu bleiben. Wir wollten nach Hause", sagt Kukina ZDF frontal. Alina fährt einen weißen Mazda, ihr Mann Oleksandr mit der siebenjährigen Tochter Alisa einen Lexus.
    "Ich bin hinter ihm gefahren. Mein Ehemann sagte noch: 'Fahre dicht hinterher. Ich werde vorne fahren und du hinter mir.'" Oleksandr überlebt diesen Fluchtversuch über die Schytomyr-Autobahn nicht. "Sie waren zuerst nicht zu sehen. Es wurde aus dem Wald geschossen. Dann kamen sie alle raus", erzählt Alina.

    Sein Auto wurde beschossen, die Geschosse trafen seine Beine, die Lunge, die Brust.

    Alina Kukina

    Auch die Schulter von Tochter Alisa wird von einem Projektil getroffen. Nahe einer Tankstelle kommt das Fahrzeug zum Stehen, fängt an zu brennen. Tochter Alisa erlebt, wie die Beine ihres Vaters Feuer fangen.
    Hinweis: Dieser Beitrag enthält Szenen, wie Menschen erschossen werden. Es werden unter anderem Folter und Gewalt thematisiert. Diese Inhalte können verstörend sein.17.03.2022 | 13:48 min
    "Als ich vorbeigefahren bin, wurde ich wieder beschossen. Ich konnte nicht anhalten", erzählt Alina. Einige Hundert Meter weiter kollidiert ihr Wagen mit der Leitplanke. "Ich hatte mit meinem Leben schon abgeschlossen." Sie steigt aus, hebt die Hände.

    Einer auf dem Panzer, wahrscheinlich der Hauptmann, hat ein Zeichen gegeben, dass ich zu ihm kommen soll. Ich kniete, er richtete die Maschinenpistole auf mich und sagte: 'Sprich! Ich schieße! Wo sind die Streitkräfte?'

    Alina Kukina

    Mehr als fünf Minuten muss sie so verharren. "Er zielte und ich habe nur noch das Laden der Waffe gehört", sagt Alina. Sie springt auf und rennt in den Wald neben der Autobahn. Mehrere Kugeln treffen sie, sie wird bewusstlos. Später werden Alina und Alisa von Anwohnern gerettet. Sie kommen für eine medizinische Behandlung nach Deutschland.

    Fall Olena Lebedewa: Russische Soldaten lachen über verletzte Rentnerin

    Am 4. März will das Rentner-Paar Lebedew aus der Ortschaft Mykolaiw über die Schnellstraße fliehen. "Als wir von der Dorfstraße auf die Schytomyr-Autobahn fuhren, begann man auf uns zu schießen. Das war kein ukrainischer, sondern ein russischer Posten", erzählt Olena Lebedewa. Sie wird an der Schulter verletzt.

    Mein Ehemann hat sie angeschrien. (…) Sie lachten: 'Wie viele Kilometer sind es bis zum Dorf?' Ich antwortete sechs. 'Na dann laufen Sie los!'

    Olena Lebedewa

    Nach 100 Metern stürzt die Rentnerin. "Dort habe ich gelegen, meine Beine habe ich nicht mehr gespürt." Andere Flüchtende finden sie. In den Sozialen Medien kursieren Videoaufnahmen von Zivilisten, die an denselben Tagen an derselben Stelle unter Beschuss geraten.

    Fall Familie Iowenko: Eine Flucht endet im Kugelhagel

    Bereits im März berichtete ZDF frontal von der Tötung des Ehepaars Maksim und Ksenja Iowenko. Sie wurden am 7. März von russischen Soldaten an der Schytomyr-Autobahn erschossen. Eine ukrainische Kameradrohne filmte das ganze Verbrechen.

    Durch die Schüsse wurde die Mutter getötet, weil sie mit ihrem Körper das Kind geschützt hat.

    Vater von Maksim Iowenko

    Sehen Sie hier die komplette Recherche zur Erschießung von Maksim und Ksenja Iowenko:
    Hinweis: Dieser Beitrag enthält Szenen, wie Menschen erschossen werden. Diese Bilder können verstörend sein.22.03.2022 | 4:54 min
    Inzwischen liegen ZDF frontal neue Informationen vor. Der sechsjährige Sohn und eine Patentante, die ebenfalls im Fahrzeug saßen und anschließend von russischen Soldaten weggeführt wurden, sollen am Leben und in Sicherheit sein. Der Fahrer eines weiteren Fahrzeugs der Kolonne bestätigte den Verlauf des Geschehens, das ZDF-Team konnte sein von Kugeln beschädigtes Auto begutachten.

    Russische Soldaten schießen so lange, bis das Auto explodiert

    Wie viele weitere Opfer es insgesamt an der Schnellstraße gab, ist unklar. Bis heute stehen auf der Schytomyr-Autobahn zahllose verlassene oder zerstörte Autos. Was mit den Insassen geschah, ist häufig unbekannt. Die Ermittlungen laufen noch.
    In einem zerstörten Kia seien drei Leichen gefunden worden, berichtet Staatsanwalt Jurij Dmytrun ZDF frontal. "Während der Ermittlung wurde festgestellt, dass das Auto so lange beschossen wurde, bis es explodiert ist."

    Falls die Leichen nicht vollständig verbrannt waren, haben die russischen Soldaten sie aus dem Wagen herausgeholt, Reifen darauf gelegt und weiterbrennen lassen.

    Jurij Dmytrun, Staatsanwaltschaft Kiew

    Bilder der verbrannten Toten liegen ZDF frontal vor.



    Hinweise auf Täter: Diese Einheiten sollen verantwortlich sein

    Am Straßenrand der Schytomyr-Autobahn stößt das ZDF-Team auf Hinweise, wer die Täter sein könnten. Ausgabelisten für Munition weisen auf die fünfte Panzerbrigade hin - Einheit 46108, stationiert in Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Burjatien.
    Einen Namen auf einer Liste in der Nähe eines zerstörten russischen Panzers können einer Todesnachricht im Netz zugeordnet werden. Der Leutnant aus Ulan-Ude sei am 6. März in der Ukraine gefallen, heißt es dort.
    Sie gelten als geheime Krieger des Kremls: Die Söldner des privaten Militärunternehmens “Gruppe Wagner”.16.08.2022 | 9:48 min
    In den verlassenen Stellungen der russischen Armee liegen die Armbinde eines Ausbilders und Rekrutierungslisten. Alles deutet darauf hin, dass viele Soldaten an der Autobahn unerfahren waren, immer wieder ist das Rekrutierungsdatum 24. Juni 2021 zu lesen - genau acht Monate vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine.
    Im Fall der Familie Kukin konnte die ukrainische Staatsanwaltschaft einen Verdächtigen ermitteln. "Es ist ein Soldat der 64. Schützenbrigade der russischen Föderation der Region Chabarowsk. Die genannte Militäreinheit hat den Wald von der Stadt Butscha bis zu der Schytomyrska Autobahn okkupiert", sagt Staatsanwalt Dmytrun. Es ist eine berüchtigte Einheit, die auch für Kriegsverbrechen in Butscha verantwortlich gemacht wird.

    Ist das Töten an der Schytomyr-Autobahn ein Kriegsverbrechen?

    Für Wolfgang Richter, Oberst a.D. und Militärexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, sind diese Taten Kriegsverbrechen.

    Es gibt das klare Völkerrechtsgebot: Zivilisten dürfen nicht angegriffen werden. (…) Objektiv bleibt das beim Kriegsverbrechen.

    Wolfang Richter, Stiftung Wissenschaft und Politik

    "Wenn zivile Autos gestoppt werden und auch Frauen und Kinder dort sich bewegen und aussteigen und die Hände heben, dann ist spätestens der Zeitpunkt gekommen, wo auch die Truppe an der Front begreifen muss, dass es hier nicht mehr um militärische Operationen geht."
    Die Überlebenden der Schytomyr-Autobahn wie Alina Kukina müssen das Erlebte noch verarbeiten. "Unsere Familie ist zerbrochen. Unsere Pläne wurden zerstört. Meine Tochter sagt: 'Wie ist das? Alle haben einen Vater. Und ich habe keine Familie mehr.'"
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