Kevin Kühnert hat seinen Twitter-Account deaktiviert. Menschlich betrachtet der einzig richtige Schritt. Und trotzdem ein Riesenfehler.
"Etwas ist schiefgelaufen" – wer heute den Twitter-Account von Kevin Kühnert ansteuert, liest dort diese nüchterne Information. Die Tweets des SPD-Generalsekretärs sind verschwunden. Ebenso wie ihr Urheber von Twitter. Kühnert, der sich gestern zu Waffenlieferungen an die Ukraine äußerte und daraufhin massiv kritisiert wurde, hat sich - zumindest vorübergehend - gelöscht.
"Lösch dich!" gehört in den sozialen Netzwerken noch zu den wenigen dort auffindbaren freundlichen Aufforderungen an Menschen mit anderer Meinung. Der Ton, besonders auf Twitter und Facebook, ist verroht, der Umgang mit dem Gegenüber oft unmenschlich. Dort massiv kritisiert zu werden, das mutet dort mittlerweile wie eine Runde Kuscheln in der realen Welt an.
Als Mensch nachvollziehbar - als Politiker hochproblematisch
Auf Twitter wird oft nicht massiv kritisiert, sondern gehasst und gehetzt. Leute lassen sich - erschreckend oft unter ihrem Klarnamen, so tief ist die Hemmschwelle inzwischen durch die schiere Größe des Mobs gesunken - zu Äußerungen hinreißen, für die sie in der realen Welt auf der Stelle umgehend sanktioniert würden. Durch Abbruch des Gesprächs, durch Abbruch des Kontakts, durch Hausverbot oder durch eine Geldstrafe wegen Beleidigung.
Schutz- und grenzenlos im Netz?
Der Mensch Kevin Kühnert hat also eine komplett nachvollziehbare und im Sinne des Selbstschutzes gesunde Entscheidung getroffen. Wer bleibt schon freiwillig länger als nötig im Schützengraben?
Als Politiker aber hat Kühnert eine hochproblematische Entscheidung getroffen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens erklärte er seinen Abschied von der Plattform damit, dass Twitter zu "Irrtümern in politischen Entscheidungen" führe. Ein bemerkenswertes Eingeständnis: Ein Spitzenpolitiker räumt ein, nicht in der Lage zu sein, die Bedeutung von Social Networks rational einordnen zu können in einen großen Kontext. Sich hinreißen zu lassen von einer Blase. Die Twitter in Deutschland zweifellos ist.
Verstummen der Mitte gefährdet Demokratie
Der Anteil regelmäßiger User bewegt sich hierzulande traditionell unterhalb der fünf Prozent. Nun könnte man argumentieren, dass es dann doch nun wirklich völlig irrelevant ist, ob Kevin Kühnert da mitmacht oder nicht. Das lässt sich jedoch schwerlich aufrechterhalten an dem Tag, an dem der Mörder von Idar-Oberstein zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Mann, der einen jungen Tankstellenmitarbeiter nach der Aufforderung zum Masketragen erschoss, hatte sich auch im Netz radikalisiert.
Und deshalb ist es, zweitens, eine ganz schlechte Idee, sich zurückzuziehen aus einem Netzwerk, an dem zwar nicht viele Menschen aktiv teilnehmen, dessen Auswirkungen aber gefährlich sein können. Politiker haben eine Vorbildfunktion.
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Auch andere Politiker in sozialen Netzwerken gescheitert
Kühnert ist nicht allein und bei weitem nicht der erste Politiker, der an den mit vielen Grundwerten unserer Gesellschaft unvereinbaren Gepflogenheiten der sozialen Netzwerke scheitert.
Robert Habeck, damals noch Grünen-Chef, verließ Twitter bereits Anfang 2019. Der polarisierende Ton dort, der Zwang zuzuspitzen, färbe auf ihn ab, schrieb Habeck dazu in seinem Blog. Was er dort auch sehr offen erwähnt, nicht aber als ausschlaggebenden Grund für seine öffentlichkeitswirksam inszenierte Abkehr nannte: Er hatte quasi zwei Bundesländern durch unbedachte Formulierungen abgesprochen, demokratisch zu sein.
Auch Bodo Ramelow vergaloppierte sich. Während der Corona-Hochphase plauderte sich der linke Ministerpräsident von Thüringen auf der (inzwischen vergessenen) Plattform "Clubhouse" fast um Kopf und Kragen:
Er spiele "Candy Crush" während der damals regelmäßig tagenden Ministerpräsidentenkonferenzen, berichtete Ramelow vor Tausenden entzückt horchenden Zuhörern, nannte die Kanzlerin "das Merkelchen" – und reagierte empört, als seine Äußerungen den Weg in die Medien außerhalb von Clubhouse fanden. Eigentlich lustig, in seiner Naivität im Umgang mit Social Media jedoch erschreckend.
Tech-Riesen endlich in die Pflicht nehmen
Dass die Sozialen Netzwerke sind, wie sie sind, ist das Ergebnis politischen Handelns. Beziehungsweise: politischen Nicht-Handelns. Dass Kühnert Twitter verlässt, das Resultat dieser seit Jahren zu beobachtenden Arbeitsverweigerung.
Es findet sich ein zweiter Satz auf seinem nun deaktivierten Account: "erneut versuchen". Ein guter Hinweis, sowohl für Kühnerts persönliches Twitter-Engagement als auch an die gesamte Politik. Die Hass und Hetze endlich Einhalt gebieten und die Tech-Riesen hinter den Plattformen in die Pflicht nehmen muss.
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