Explodierende Lebenshaltungskosten. Brexit-Streit. Das Gesundheitssystem vor dem Kollaps. Ukraine-Krieg. Eine Streikwelle im Herbst. Vorfreude auf die Macht sieht anders aus.
Ein schier nicht enden wollender Zweikampf um den Parteivorsitz der Konservativen, gleichzeitig das Ticket für 10 Downing Street, den Amtssitz des britischen Premiers, ist zu Ende. Liz Truss hat den wochenlangen Wahlkampf für sich entschieden und wird Boris Johnson als Premier folgen. Wochen, in denen die Inflation auf 10 Prozent stieg. Bis zu 20 Prozent im kommenden Jahr, so das Horrorszenario.
Steuersenkungen als Allheilmittel in Großbritannien
Eine Zeit, in der ein Viertel der Briten in Umfragen erklären, im Winter nicht heizen zu wollen. Klein- und Mittelstandsvereinigungen warnen vor einer Pleitewelle - für viele Betriebe habe sich die Strom- und Gasrechnung verdreifacht, und es kommt wohl im neuen Jahr noch dicker.
Standhaft hatte sich Liz Truss geweigert, in den zwölf Parteikonferenzen, in den fünf TV-Debatten konkret zu werden. Während anderswo in Europa Notfallpläne geschmiedet wurden, Funkstille auf der Insel. Steuersenkungen, das Allheilmittel der Liz Truss, und dazu Hoffnung verbreiten. Die Briten hätten schon Schlimmeres überstanden.
"Der Streit um das Nordirlandprotokoll könnte sich zuspitzen, auch von einem Handelskrieg ist die Rede", wenn Brexit-Hardlinerin Liz Truss Premierministerin werde, so ZDF-Korrespondent Andreas Stamm.
Mit Hoffnung lässt sich nicht heizen
Bis gestern. In einer Sonntags-Talkshow machte Liz Truss klar: Ihr Team habe ein Paket geschnürt, innerhalb der kommenden Woche wird sie Ihre Pläne vorstellen. Umgerechnet 120 Milliarden Euro, so die Zahl, die durch Westminster schwirrt. Ein massives Programm, ähnlich zu denen in Corona-Lockdown-Zeiten, um die Folgen der Lebenshaltungskostenkrise abzufedern.
"Das ist ihre einzige Chance, aus ihrer Zeit als Premierministerin einen Erfolg zu machen", erklärt Sebastian Payne, Politikchef der "Financial Times".
Ansonsten dürften die Konservativen, seit 2010 an der Macht, ihr Pulver verschossen haben. Und Truss nur den Niedergang verwalten.
Truss will mehr Thatcher wagen
Ausgaben steigern, tiefe Eingriffe des Staats in die Wirtschaft - ein solches Programm aufzulegen dürfte Liz Truss schwergefallen sein. Kleiner Staat, die Beamtenschaft verkleinern, Steuern senken, Ende der Umverteilungspolitik von Reich nach Arm. Wieder mehr Thatcher wagen, das ist ihre tiefe Überzeugung. So Wachstum ankurbeln, dass es am Ende allen zugutekommt.
Das sei problematisch, sagen viele Ökonomen, da dieser Trickle-Down-Effekt gut klinge, aber in der Realität, in vielen Studien, nicht nachgewiesen werden konnte. Der Times-Kolumnist und ehemalige konservative Parlamentsabgeordnete Matthew Parris erklärt:
Die große Frage wird sein, ob und wie stark das mit der ökonomischen Realität kollidiert.
Rekordverdächtige Problemberge in Großbritannien
Denn Steuersenken bei hoher Staatsverschuldung könnte den freien Fall des Pfunds befördern. Deregulierungspläne, wie etwa die Abschaffung der maximal erlaubten Wochenarbeitsstunden, dürfte die Gewerkschaften noch weiter auf die Barrikaden treiben. Dabei steuert das Land auch so schon auf eine Streikwelle zu - viele Berufsgruppen wollen viel mehr Lohn wegen der hohen Inflation, mit aller Macht.
Als zum Brexit konvertierte dürfte ihr Kabinett sehr EU-feindlich sein. Die einseitige Kündigung von Teilen der Brexit-Verträge steht im Raum, ein möglicher Handelskrieg mit Brüssel. Mitten in einer Wirtschaftskrise, ein Rezept, sich selbst in den Fuß zu schießen, so Beobachter.
Gesundheitsdienst überlastet
Und so viele weitere Probleme. Was ist mit der Klimakrise, mit erstmals Temperaturen über 40 Grad in England in diesem Sommer? Truss will Fracking erlauben. Mehr Bohrlizenzen für Gas und Öl aus der Nordsee. Ein steiniger Weg.
Kein Weg zu Behandlungen sehen dagegen Millionen Briten. Sie warten - der staatliche Gesundheitsdienst ist völlig überlastet. Schottlands erste Ministerin Nicola Sturgeon will ein Unabhänigkeitsreferendum erzwingen. Im Wahlkampf hat Truss sie als "Aufmerksamkeitssüchtige" gebrandmarkt. Konfrontation statt Kooperation. Auch im Verhältnis zu China setzt Truss auf Härte - ein weiterer wirtschaftlicher Drahtseilakt.
Auf dem rechten Flügel: Ein Porträt von Liz Truss.
Zum Scheitern verurteilt?
Truss hat eine satte Mehrheit im Parlament von Boris Johnson geerbt. Doch die gilt keinesfalls als sicher. Rund die Hälfte ihrer Abgeordneten hat den Konkurrenten, Ex-Finanzminister Rishi Sunak, unterstützt. Und selbst in ihrem Lager, hinter vorgehaltener Hand, sprechen Parteifreunde ihr die Befähigung für das höchste Amt ab. Was habe sie geleistet als Außen-, Handels, Justiz und Umweltministerin? Wenig, heißt es da oft. Außer den Willen zur Macht zu demonstrieren.
Die vielen Versuche, sie in einem positiveren Licht zu sehen, seien zum Scheitern verurteilt, erklärt Kolumnist Parris. Sie habe nicht, was es brauche. Als Führungsfigur, intellektuell, inhaltlich. Ein vernichtendes Urteil. Von einem, der auch Boris Johnson vor Amtsantritt die Eignung als Premier abgesprochen hatte. Und Recht behielt.
Andreas Stamm ist Korrespondent im ZDF-Studio London.