Europas atomare Abschreckung: Kann Frankreich Schutzschirm?

    FAQ

    Abschreckung in Europa:Wie die Atommacht Frankreich uns schützen kann

    von Anne Arend, Kevin Schubert
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    Die USA sind für Europa unberechenbar geworden, auch bei der atomaren Abschreckung. Macron stellt nun den Schutz der Atommacht Frankreich in Aussicht. Wie sehr hilft das?

    Kampfjet von Dassault Rafale mit einem französischen atomaren luftgestützten Marschflugkörper ASMPA (Mittelstrecken-Luft-Boden-Rakete).
    Frankreich besitzt wohl rund 290 Atomsprengköpfe. Über ihren Einsatz entscheidet Frankreich souverän, nicht die Nato. Ist das Land bereit für eine strategische Öffnung?03.03.2025 | 2:33 min
    Setzt Deutschland bei der nuklearen Abschreckung in Zukunft auf Frankreich? Schon im Wahlkampf hatte Friedrich Merz (CDU) im ZDF Gespräche mit den europäischen Atommächten gefordert. "Wir müssen uns darauf einstellen, dass Donald Trump das Beistandsversprechen des Nato-Vertrages nicht mehr uneingeschränkt gelten lässt", sagte Merz.
    Jetzt hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron "auf den historischen Aufruf des zukünftigen deutschen Kanzlers" geantwortet. Die "strategische Debatte" sei "eröffnet" - Verbündete in Europa unter den Schutz französischer Atomwaffen zu stellen grundsätzlich möglich.

    Artikel 5 des Nordatlantikvertrags regelt den Bündnisfall der Nato. Dazu heißt es in dem Vertrag: "Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird."
    Im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs auf ein Nato-Mitglied bedeutet das, dass die Mitgliedsstaaten bei der Selbstverteidigung des angegriffenen Landes Beistand leisten. Das schließt auch die "Anwendung von Waffengewalt" ein, wie es im Vertrag heißt, "um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten".
    Quelle: North Atlantic Treaty Organization

    Friedrich Merz
    In diesem Interview fordert Merz Gespräche mit Europas Atommächten.21.02.2025 | 13:15 min
    Wie aber könnte eine europäische Abschreckung mit französischen Waffen aussehen? Welche Herausforderungen gibt es auf dem Weg dorthin? Und wie verlässlich ist Frankreich als langfristiger Partner?
    Antworten auf wichtige Fragen.

    Was bezweckt Macron mit seinem Vorstoß?

    Macrons Vorschlag, den nuklearen Schutzschirm Frankreichs auf andere europäische Länder auszuweiten, ist nicht neu. Neu ist, dass die europäischen Partner nun auf seine Ideen eingehen, vielleicht sogar eingehen müssen. Deutschland etwa, das jahrelang das Drängen des französischen Präsidenten, die europäische Verteidigung auszubauen, ignorierte und sich lieber auf die USA verließ.
    Zusehen ist Frankreichspräsident Macron vor französischen Militärfliegern.
    US-Präsident Trump droht Europa seinen Schutz zu entziehen. Unions-Kanzlerkandidat Merz fordert daher Gespräche über atomaren Schutz mit Frankreich. 21.02.2025 | 10:45 min
    Das scheint sich nun zu ändern. Aus Deutschland kommen neue Signale, Signale auf die Macron gehofft hat. Er sieht sich mehr denn je als Antreiber, der in Zeiten globaler Bedrohung für Stabilität sorgt. Dass die Sicherheit Europas im ureigenen Interesse seines Landes liege, hat er abermals in seiner Fernsehansprache wiederholt. Doch er möchte auch Frankreich als führende Atommacht stärken und die europäische Autonomie ausbauen. Ein Ziel, dass Macron schon lange verfolgt.

    Wie funktioniert die atomare Abschreckung in Deutschland bislang?

    Deutschland selbst besitzt keine Atomwaffen, ist aber über die sogenannte nukleare Teilhabe geschützt. Die gehört zur Abschreckungspolitik der Nato. Sie ermöglicht Deutschland und anderen Nato-Staaten, US-amerikanische Atombomben einzusetzen. Vor einem Einsatz müssen zwei Bedingungen erfüllt sein:
    1. Der US-Präsident muss die Waffe freigeben.
    2. Auch die Bundesregierung muss sich für einen Einsatz entscheiden.
    Nach Angaben der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) lagern bis zu 20 B61-Bomben der USA auf deutschem Boden. Sie sollen auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel stationiert sein. Büchel ist Standort des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 der Bundeswehr. Laut Bundeswehr sind dort aktuell 46 Kampfflugzeuge vom Typ Tornado stationiert. Der Tornado gehört zu den atomwaffenfähigen Flugzeugen. B61-Bomben gehören zu den sogenannten taktischen Nuklearwaffen.



    Wie könnte ein französischer Atomschirm für Europa aussehen?

    Frankreich ist die viertgrößte Atommacht der Welt. Derzeit verfügt die "Force de Frappe" genannte Politik der Abschreckung nach Angaben des Nuclear Notebooks über 290 atomare Sprengköpfe.
    Etwa 50 Sprengköpfe sind Marschflugkörper vom Typ ASMPA, die von Kampfjets des Typs Rafale abgefeuert werden können. Die Kampfjets haben eine Reichweite von etwa 2.000 Kilometern. Die anderen 240 Sprengköpfe sind ballistische Raketen (M51.1, M51.2), die von Frankreichs vier Atom-U-Booten abgefeuert werden können. Ihre Reichweite beträgt mehr als 6.000 (M51.1) beziehungsweise mehr als 9.000 Kilometer (M51.2). Ein U-Boot kann bis zu 80 Sprengköpfe transportieren.
    Standorte der Nato-Atomwaffen in Europa

    ZDFheute Infografik

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    Was Macron bereits klargestellt hat: Die Entscheidungshoheit über französische Atomwaffen soll in den Händen Frankreichs bleiben. "Was auch immer geschieht, die Entscheidung lag und liegt immer in den Händen der Republik, des Oberbefehlshabers der Streitkräfte", betont Frankreichs Präsident.
    Darüber hinaus gibt es vor allem Fragen, aber auch Ideen, sagt Militärexperte Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr, der die Diskussion für "sinnvoll und überfällig" hält. "Das Wichtigste ist, dass dieser Dialog begonnen hat", sagt Sauer. "Und dann geht es darum, die politischen und militärischen Hürden gemeinsam anzugehen."

    Neben Frankreich verfügt als zweites Land in Europa auch Großbritannien über eine Atomstreitmacht. Das Nuclear Notebook schätzt die Zahl der Sprengköpfe auf aktuell 225, von denen etwa 120 für den Einsatz auf Großbritanniens vier U-Booten der Vanguard-Klasse bereit sind. Die U-Boote sind mit Interkontinentalraketen vom Typ Trident ausgestattet, die eine Reichweite von mehr als 10.000 Kilometern haben.

    Das Vereinigte Königreich ist seit dem Brexit nicht mehr in der EU. Es setzt mit seinen U-Booten als einzige Atommacht auf nur ein Abschreckungssystem: Anders als Frankreich verfügt Großbritannien nicht über luftgestützte Nuklearwaffen.

    Großbritannien kommt weniger als Schutzmacht für Deutschland und Europa in Frage. Das wesentliche Problem: "Das Arsenal der Briten ist sehr eng mit den Amerikanern verzahnt", erklärt Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr. "Die Trident-Interkontinentalraketen sind den Briten in einer Art Leasing-Modell zur Verfügung gestellt." Die Briten seien beispielsweise bei deren Wartung auf Unterstützung der USA angewiesen. "Sollten, im schlimmsten Fall, die USA ihre Unterstützung auch da zurückziehen, dann hätte die Atommacht Großbritannien eine Art Ablaufdatum, nach dem ihr Arsenal nicht mehr garantiert voll einsatzfähig wäre", sagt Sauer.

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    Welche Herausforderungen gibt es - politisch und militärisch?

    Auf politischer Ebene braucht es einen Rahmen, der wichtige Fragen klärt, etwa:
    • Würden französische Atomwaffen auch in Partnerländern wie Deutschland stationiert werden?
    • Beteiligen sich Deutschland und auch andere Staaten an den Milliardenkosten der "Force de Frappe"?
    Konkrete Antworten darauf gibt auch Macron derzeit noch nicht. Er dürfte sich in jedem Fall erhoffen, dass Frankreichs Rüstungsindustrie stärker profitiert, wenn das Land die tragende Kraft in der europäischen Sicherheitsarchitektur wird.
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    Auf militärischer Ebene könne Frankreich nach einer politischen Einigung beginnen, eine Staffel seiner Atomstreitkräfte in Deutschland zu stationieren, sagt Sauer. Danach könnte es für beide Seiten darum gehen, in gemeinsamen Übungen ein gegenseitiges Verständnis und funktionierende Strukturen aufzubauen.
    "Zukunftsmusik" sei dann, auch kompatible Waffensysteme zu schaffen, sagt Sauer. "Dass Deutschland seine alten Tornados nochmal so umrüstet, dass sie auch die französischen Marschflugkörper abfeuern können, kann ich mir kaum vorstellen." Denkbar sei dagegen laut Sauer eine Integration in den Eurofighter. Schließlich baue der Hersteller der nuklear bestückten französischen Marschflugkörper auch konventionelle Waffen, die am Eurofighter genutzt werden können.
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    Wo würde sich die fehlende US-Unterstützung noch bemerkbar machen?

    Frankreich verfügt, wie Großbritannien auch, nur über strategische Atomwaffen - nicht über taktische. Mit einer Sprengkraft von bis zu 300 und vermutlich mindestens 100 Kilotonnen übersteigen sie die Wirkung der Hiroshima-Bombe (15 Kilotonnen) um ein Vielfaches. "Eine Abschreckung auf einer substrategischen Ebene können wir mit Frankreichs Hilfe nicht erreichen - zumindest nicht auf die Schnelle", sagt Militärexperte Frank Sauer. "Einen Ersatz für die nukleare Teilhabe der Nato hätten wir im Extremfall also erstmal nicht. Frankreich müsste sein Arsenal erweitern."
    Für eine glaubwürdige Abschreckung braucht es auch Frühwarn- und Aufklärungssysteme, um überhaupt in der Lage zu sein, rasch reagieren zu können. Entscheidende Bereiche wie die "Informationssammlung, -aufbereitung, -weitergabe und Kommunikation, auch die Überwachung und Zielgenerierung, machen bislang vor allem die Amerikaner", erklärt Sauer.
    Auf der Infografik sind die weltweiten Atomwaffen-Arsenale dargestellt. Dabei wird deutlich: Russland und die USA haben mit über 5.000 Sprengköpfen den größten Bestand - gefolgt von China und Frankreich.

    Ab wann könnte eine europäische Abschreckung greifen?

    Hier will sich Sauer nicht festlegen. "Aktuell passieren an einem Tag Dinge, die normalerweise ein halbes Jahr benötigen würden", sagt der Militärexperte. "Wenn die Situation es erfordert, wären die notwendigen politischen und militärischen Dinge vielleicht in zwei bis drei Jahren zu schaffen", schätzt er. "Normalerweise würden wir hier aber von einem Jahrzehnt sprechen. Entscheidend ist aber unabhängig vom Zeitrahmen, dass Russland glauben muss, dass Europa sich im Zweifel auch ohne die USA wirklich mit allem zur Wehr setzen würde."
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    Was würde passieren, wenn Le Pen Präsidentin würde?

    Marine Le Pen und ihre rechtsnationalistische Partei "Rassemblement National" sind dagegen, den nuklearen Schutzschirm auf Europa auszuweiten. Abschreckung zu teilen, hieße, sich selbst abzuschaffen, erklärte erst kürzlich im Parlament die Frau, die hofft, 2027 Frankreich Präsidentin zu werden. Le Pen sieht in der Atombombe den "höchsten Grad an Souveränität" für das eigene Land.
    Ganz im Sinne ihrer "Frankreich zuerst"-Politik stellt sie sich somit nicht nur gegen die aktuelle Debatte, die Macron angestoßen hat. Ihr Widerstand lässt auch daran zweifeln, ob sich EU-Partner auf ein mögliches französisches Versprechen einer nuklearen Abschreckung verlassen könnten, sollte Le Pen tatsächlich an die Macht kommen. Denn als Präsidentin wäre sie gleichermaßen Oberbefehlshaberin der Streitkräfte. So ist es in Artikel 15 der Verfassung festgeschrieben.
    Anne Arend ist Korrespondentin im ZDF-Studio Paris.
    Kevin Schubert ist Redakteur und Reporter bei ZDFheute.

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