Seit Monaten weigert sich die Bundesregierung, der Ukraine alte Marder-Schützenpanzer und Leopard 1 zu liefern. Fehlen diese Waffen jetzt bei der Cherson-Großoffensive?
Die ukrainische Offensive im Umland der von Russland besetzten südlichen Großstadt Cherson dauert an. Verlässliche Informationen über Geländegewinne und Verluste beider Seiten sind dabei weiter rar.
Erste kursierende Bilder und Videoaufnahmen zeigen ukrainische Infanterie, Panzer und andere Fahrzeuge, die auf offenem Gelände durch Felder vorrücken. Die Region um Cherson ist meist flach - ein Verteidiger in geschützter Position deutlich im Vorteil.
Bei Beobachtern im Netz lässt das erneut die Frage aufkommen, ob Deutschland mit der seit langem diskutierten Lieferung alter Marder-Schützenpanzer und Leopard-1-Kampfpanzer der Ukraine in der aktuellen Situation nicht geholfen hätte. Bislang lehnt die Bundesregierung diesen Schritt ab. Ist das tatsächlich eine verpasste Chance?
Masala: Deutsche Panzer würden ukrainische Soldaten schützen
Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, ist überzeugt, dass gepanzerte Fahrzeuge wie der Marder aus Deutschland in dieser zentralen Offensive einen Unterschied machen würden.
"Ohne gepanzerte Fahrzeuge haben die ukrainischen Soldaten keinen Schutz. Treffer der russischen Armee bringen sie um, wenn sie von A nach B verlegt werden", erklärt Masala.
Auch Kampfpanzer wie der in der Bundeswehr längst ausgemusterte Leopard 1 würden laut Masala aktuell helfen. "Panzer sind dazu da, der Infanterie Feuerschutz zu geben, andere Panzer und auch Gegner in Befestigungen zu bekämpfen. Da wohl nur drei mechanisierte Brigaden der Ukraine in Cherson tätig sind, wären wenige Panzer sicherlich sehr hilfreich. Wichtiger sind momentan jedoch gepanzerte Fahrzeuge zur schnellen Bewegung", sagt Masala ZDFheute.
Richter: Bundesregierung kann nicht im Alleingang entscheiden
Einhellige Unterstützung findet die Lieferung von Marder und Leopard 1 unter Militärexperten jedoch nicht. Wolfgang Richter, Oberst a.D. und Forscher bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, führt gegenüber ZDFheute mehrere Gründe an, warum die Bundesregierung die fraglichen Fahrzeuge nicht habe liefern können.
"Ich gehe nicht davon aus, dass es in der Region Cherson einen Mangel an Schützenpanzern gibt", sagt Richter. "Dass ukrainische Infanterie aufgesessen auf BMP-Schützenpanzern mitfährt, ist kein Zeichen für mangelnde Transportkapazität, sondern eine alte Tradition noch aus Sowjetzeiten - solange man nicht unter Beschuss steht."
Gegen die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern westlicher Bauart gebe es weiterhin politische Bedenken, nicht nur in der Bundesregierung, so Richter. "Im Alleingang wird Berlin das nicht entscheiden, man muss sich mit den Verbündeten abstimmen." Auch andere Staaten hätten bislang keine vergleichbaren Waffensysteme geliefert. Ähnlich begründete Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) ihre Ablehnung im Juni im Bundestag. Bei Waffenlieferungen sei Deutschland "an der Grenze angelangt".
Industrie hat nur begrenzte Kapazitäten, um alte Panzer herzurichten
Einerseits bestünde laut Richter die Sorge, dass westliche Fahrzeuge beim Einsatz an vorderster Front in die Hände Russlands fallen könnten. Außerdem müssten die ausgemusterten Marder und Leopard 1 erst aufwändig in Stand gesetzt werden. "Da besteht eine Konkurrenzsituation bei der Industrie", sagt Richter. Kapazitäten seien begrenzt.
Der Rüstungskonzern Rheinmetall hatte Mitte Juli bekannt gegeben, dass man die ersten sechs Marder-Panzer bereits fertig modernisiert hätte, sodass sie exportiert werden könnten. Bei Artillerie sei diese rote Linie mit der Lieferung von Himars-Systemen oder der Panzerhaubitze 2000 auch bereits überschritten worden. Er halte es darum nicht für ausgeschlossen, dass man sich in Zukunft auch bei Kampf- und Schützenpanzern westlicher Bauart in Abstimmung mit Verbündeten doch noch für Lieferungen an die Ukraine entscheidet, sagt Richter.
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