Russland verkündet im Staatsfernsehen die Einnahme Mariupols. Was wurde aus den ukrainischen Verteidigern und der Zivilbevölkerung? Was über die Lage in der Stadt bekannt ist.
Über Wochen hatten ukrainische Soldaten die von Russland eingekesselte Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine gehalten, wurden aber immer weiter zurückgedrängt, die Stadt dabei weitgehend zerstört. Am Donnerstag hat Russlands Präsident Wladimir Putin nun bei einem TV-Auftritt mit Verteidigungsminister Sergei Schoigu die "Befreiung" der Stadt verkündet. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj widersprach am Abend. Die Stadt widersetze sich weiter, "trotz allem, was die Besatzer über sie sagen".
Kontrolliert Russland tatsächlich ganz Mariupol?
Minister Schoigu sprach von rund 2.000 verbliebenen ukrainischen Soldaten, die sich weiterhin auf dem Gelände des Asow-Stahlwerks verschanzt hätten. Putin ordnete an, das Stahlwerk nicht zu stürmen. Ein entsprechender Befehl solle zurückgenommen werden.
Auf dem Gelände von Asowstahl haben ukrainische Truppen umfangreiche Verteidigungsstellungen errichtet und Tunnel gegraben. Auch eine unbekannte Zahl an Zivilisten soll auf dem Gelände Zuflucht gefunden haben. In "drei bis vier Tagen" werde die Fabrik ebenfalls eingenommen sein, so der Minister. Die Eingeschlossenen im Stahlwerk sollen zur Aufgabe gezwungen werden - ihre humanitäre Lage dürfte sich dadurch weiter verschlechtern.
In den vergangenen Tagen gab es nur noch vereinzelt Berichte und Videoaufnahmen von Gefechten im eigentlichen Stadtgebiet. Umgekehrt veröffentlichen russische Medien und Militär zahlreiche Propaganda-Aufnahmen aus verschiedenen Teilen der Stadt. Eine Kontrolle des Stadtgebiets - außerhalb des Stahlwerks - durch Russland ist nach aktuellem Stand glaubwürdig. US-Präsident Joe Biden betonte aber, es gebe "keine Beweise, dass Mariupol vollständig gefallen ist".
Was passiert mit der Zivilbevölkerung in Mariupol?
Vor Kriegsbeginn hatte Mariupol eine Bevölkerung von mehr als 400.000. Sie liegt im ukrainischen Oblast Donezk, unweit der Grenze zu den prorussischen Separatistengebieten. Sie ist vor Cherson und Melitopol nun die größte ukrainische Stadt, die Russland seit seiner Invasion im Februar besetzen konnte.
Zehntausende Zivilisten befinden sich aktuell noch in der Stadt. Am Donnerstag bestätigte die ukrainische Vize-Premierministerin Iryna Vereschtschuk, dass lediglich vier Busse mit Zivilisten Mariupol hätten verlassen können – insgesamt 90 Busse hatten bereitgestanden, doch kaum Menschen konnten sie erreichen. Am Montag warf die Stadtverwaltung Russland vor, insgesamt 40.000 Zivilisten aus Mariupol gegen ihren Willen auf russisches Territorium deportiert zu haben.
Zivilbevölkerung in Mariupol wird für Propaganda genutzt
Die in Mariupol verbleibenden Zivilisten werden derweil zu Statisten in der russischen Propaganda. Für Moskau ist es eine seltene Gelegenheit, der eigenen Bevölkerung einen Erfolg präsentieren zu können. Seit mehreren Tagen haben darum Kamerateams russischer Sender, des Verteidigungsministeriums und auch verschiedene Videoblogger umfangreichen Zugang zur Stadt.
Vor allem verbreiten sie Zeugenaussagen, die Gewalttaten des in Mariupol stationierten ukrainischen Asow-Regiments gegen die Zivilbevölkerung belegen sollen. Unabhängige Bestätigungen oder konkrete Hinweise dieser angeblichen Kriegsverbrechen gegen Zivilisten gibt es bislang nicht.
Es sei absolut unverständlich, dass die russische Regierung sich weigere zuzugeben, dass in der Ukraine Zivilisten wahllos getötet wurden, so Belkis Wille von der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch".
Russische Schulbücher halten Einzug in Mariupol
Auch sonst geben die Propaganda-Aufnahmen einen bedenklichen Vorgeschmack auf die russische Besatzung. Am Mittwoch begann für mehr als 700 Schülerinnen und Schüler der Unterricht in der Schule Nummer 53 im Norden Mariupols.
Mit dabei war Andrei Turtschak, Generalsekretär der Putin-Partei Einiges Russland, und Fernsehkameras der Nachrichtenagentur Tass. Die Bilder sollen Normalität zeigen, die jetzt unter russischer Kontrolle wieder Einzug halte. Vor den Kindern liegen Schulbücher des in Moskau ansässigen "Aufklärungs-Verlags" zu "Russischer Sprache und Literatur" - auf Russisch, nicht Ukrainisch.
2019 veröffentlichte der Verlag ein kontrovers diskutiertes Geschichtsbuch, in dem die stalinistischen Verbrechen verharmlost und die Aggression gegen die Ukraine gerechtfertigt wurden. Die Fernsehbilder legen nahe, dass Russland vorhat, auch Lehrpläne in seinem Sinne umzugestalten.
Wie geht es jetzt mit Mariupol weiter?
Für die anlaufende russische Großoffensive in der Ostukraine ist die Eroberung von Mariupol ein Erfolg. Damit stehen bald Tausende weitere Kampftruppen zur Verfügung. Wie bereits in anderen ukrainischen Städten zuvor könnten nachrückende Nationalgardisten die Sicherung von Mariupol übernehmen. Ihnen könnte etwa die Aufgabe zufallen, mögliche Belege für russische Kriegsverbrechen zu beseitigen.
Die Ukraine erklärte sich am Mittwochabend bereit, Unterhändler nach Mariupol zu entsenden, um mit Russland über die verbliebenen Soldaten und Zivilisten zu verhandeln.
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