Gehen die Kämpfe in der Ukraine in eine entscheidende Phase? Und hat die Ukraine die richtigen Waffen, um Gebiete zurückzuerobern? Fragen an den Militärexperten Carlo Masala.
Die Kämpfe in der Ukraine könnten in einer entscheidenen Phase sein, weil die ukrainische Armee an gleich mehreren Fronten Gegenoffensiven vorbereitet und Russland in die Defensive drängt, erklärt Carlo Masala, Experte für Sicherheitspolitik und Professor an der Universität der Bundeswehr in München, im ZDF.
Gleichzeitig verfügt die Ukraine auch nach neuen Zusagen der USA für militärische Unterstützung absehbar nicht über Waffen, mit der sie in großem Umfang Territorium zurückerobern könnte. Das sagt Carlo Masala über ...
... die aktuelle Situation der ukrainischen und russischen Armee
Die ukrainische Armee bereite laut Masala "mehrere kleinere Gegenoffensiven" im Süden des Landes vor. Diese würden entscheiden, ob es ihr gelinge, "den Russen Territorium zu entreißen". Gleichzeitig würden die Russen im Donbass ihre Truppen "ausdünnen", was der Ukraine die Gelegenheit gebe, auch dort Geländegewinne zu machen. Beides könnte einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf des Krieges haben, weil Russland dann zum ersten mal damit konfrontiert sei, dass ihnen an gleich mehreren Stellen Territorien entrissen werden.
Die USA gehen von rund 80.000 gefallenen oder verwundeten russischen Soldaten aus. Diese Zahl hält Masala für realistisch. Zu Beginn des Krieges hätten etwa 190.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine gestanden. Daran sehe man, "wie enorm die russischen Verluste dort sind. Zählen Sie Verluste von Material und Gerät noch dazu".
Man sehe, dass die russische Armee "einen unglaublich hohen Blutzoll zahlt".
... den Bericht von Amnesty International, der der Ukraine vorwirft, Zivilisten zu gefährden
Zum einen gebe es Zweifel an dem Bericht, weil Amnesty International "keine Leute vor Ort" hatte und sich auf Aussagen von Menschen vor Ort verlassen musste, die ihre Berichte aber "nur mit russischer Zustimmung" aus dem Donbass bringen konnte, erklärte Masala.
Zum anderen sei das aber eine grundsätzliche Frage: Zwar würde die Stationierung von Militär in Städten durchaus die Zivilbevölkerung gefährden und gegen das Vökerrecht verstoßen. Doch der Bericht ignoriere die Frage, wie man sonst Städte verteidigen könne, wenn der Angreifer selbst "in Städten operiert - dann kann ich sie nur verteidigen, wenn ich selbst meine eigenen Streitkräfte auch in Städten habe".
Daher sei es "hochproblematisch", die Verletzung des Völkerrechts durch die Ukraine mit den Kriegsverbrechen durch Russland gleichzusetzen, so Masala.
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... die erneuten Militärhilfen der USA von einer Milliarde Dollar
Die zugesagten Hilfen seien möglicherweise eine der letzten großen Lieferungen der USA, weil das Land auf die Zwischenwahlen zulaufe und die Unterstützung der Ukraine in der Bevölkerung umstritten sei. Die bisherigen Militärhilfen seien allerdings ausschließlich geeignet, "die Russen auf Distanz zu halten" - aber nicht, um Gebiete zurückzuerobern. Dafür benötige die Ukraine westliche Kampfpanzer und Kampfflugzeuge. Es sei jedoch nicht zu erwarten, dass westliche Staaten diese Art von Unterstützung bald liefern würden.
... die wahrscheinliche Entwicklung des Krieges in den nächsten Monaten
Die Debatte um das militärische Engagement werde mehr und mehr von der Energiekrise überlagert, vor allem in Deutschland, so Masala. Es sei zu befürchten, dass demnächst angesichts explodierender Energiepreise der Druck auf die deutsche Regierung größer werde, die Ukraine zu einem Kompromiss mit Russland zu drängen. "Ich glaube, darauf spekuliert Putin auch", so Masala.
Das könnte im Herbst der Fall sein, wenn die Kämpfe in der Ukraine ohnehin schwieriger werden, weil der Boden matschiger wird. "Ich glaube, das ist Teil der russischen Kriegsführungs-Strategie in einer größeren Perspektive."
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.