Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk verteidigt den Nationalisten Stepan Bandera und verneint dessen Rolle bei Massenmorden im Zweiten Weltkrieg. Was sagen Experten dazu?
Erneut steht Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Deutschland, im Zentrum einer öffentlichen Debatte. Zuvor ging es um seine scharfen Kommentare zur deutschen Russland-Politik, diesmal steht das Geschichtsbild des Botschafters selbst im Fokus.
In der Sendung "Jung & Naiv" sprach der Journalist Tilo Jung Melnyk auf seine Haltung zu Stepan Bandera an, den Anführer der ukrainischen Partisanenbewegung im Zweiten Weltkrieg. In Teilen der Ukraine gilt er als Nationalheld. Melnyk verneinte Banderas Verantwortung für Massenmorde mit Hunderttausenden Toten in Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten.
Es sei nicht die Frage ob, sondern wann die Krim zurückerobert würde, "wir verstehen, dass wir nach wie vor unterlegen sind", so Andrij Melnyk, ukrainischer Botschafter in Deutschland.
Was hat Andrij Melnyk gesagt?
Im Gespräch begründete Melnyk seine Verehrung für Bandera, an dessen Grab er auch schon Blumen abgelegt hat. "Für mich war er als Person jemand, der versucht hat, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu erreichen." Zur Ermordung von 800.000 Juden in der Ukraine durch deutsche Truppen und Verbündete behauptete Melnyk:
Historische Belege, die Jung während des Interviews vorlas, gab Melnyk an, zum ersten Mal zu hören. Darunter waren auch antisemitische Programmbeschlüsse der Bandera-Organisation OUN-B. Forschungsergebnisse rückte Melnyk mehrfach in die Nähe von Propaganda.
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"Es gibt keine Belege, dass Bandera-Truppen Hunderttausende Juden ermordet haben. Das sind diese Narrative, die die Russen bis heute durchsetzen." Auf Massaker an polnischen Zivilisten durch Bandera-Anhänger angesprochen, verwies Melnyk auf gleichzeitige Verbrechen an Ukrainern. "Die Polen wollen diese Geschichte jetzt politisieren."
Wie schätzen Forschende Stepan Bandera ein?
Anders als bei manchen früheren Kontroversen erfährt Melnyk aus den Reihen der Osteuropa-Forschenden vergleichsweise wenig inhaltliche Unterstützung.
Die Historikerin Franziska Davies von der LMU München sprach auf Twitter von "schwer erträglichen Aussagen". "Die Ideologie der OUN war geprägt von Antisemitismus und extremer Feindschaft gegenüber Polen und Russen." Ukrainische Nationalisten hätten den Kontakt zu NS-Deutschland gesucht, in der Hoffnung, Unterstützung für einen unabhängigen ukrainischen Staat zu finden.
OUN-Mitglieder hätten sich als Teil lokaler Polizeieinheiten an der Ermordung des ukrainischen Judentums beteiligt, erklärt Davies. "Zu sagen 'Bandera war kein Massenmörder' ist spitzfindig von Melnyk. Bandera ist persönlich keine Beteiligung an den Massenmorden nachzuweisen, er wurde kurz nach Kriegsbeginn von den Deutschen inhaftiert. Aber er war eine zentrale Figur der OUN", sagt Davies.
Kai Stuve, Dozent für Osteuropäische Geschichte an der Universität Halle-Wittenberg, merkt jedoch an, dass die an den Massenmorden meist beteiligten einheimischen Polizeikräfte keine Organe der OUN waren. "Geschichtsklitterung gibt es in diesem Interview auf beiden Seiten. Der Vorwurf, die Bandera-Anhänger seien für Massenmorde an 800.000 Juden verantwortlich gewesen, ist völlig absurd", schreibt Stuve auf Twitter. Die OUN-Massenmorde an Juden hätten 1941 einige Tausend Menschen umfasst, aber keine 800.000.
Forscherin Davies weist weiter darauf hin, dass Melnyks Aussagen nicht den aktuellen Stand der Erinnerungskultur in der Ukraine repräsentierten: "Gerade viele junge Ukrainer:innen sind in dieser Hinsicht Melnyk weit voraus. Sie leugnen nicht, sie diskutieren."
Die Frontstadt Lyssytschansk im Osten der Ukraine steht nach ukrainischen Angaben unter Dauerbeschuss. Indes ziehen sich russische Truppen im Südosten der Ukraine zurück.
Wie ist die Melnyk-Debatte politisch einzuordnen?
Das ukrainische Außenministerium reagierte am Donnerstag auf die Kontroverse und stellte klar:
Auch in einem Gespräch zwischen dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba und seinem polnischen Amtskollegen kamen die Äußerungen zur Sprache.
"Die Erklärung des Außenministeriums richtet sich vor allem an Polen. Bandera ist ein direktes Problem in den ukrainisch-polnischen Beziehungen", sagt der Osteuropa-Forscher Heiko Pleines von der Universität Bremen dem ZDF. "Und da sieht man schon sehr deutlich, dass die ukrainische Regierung nicht möchte, dass es da jetzt wieder zu Belastungen kommt."
Schulen, Supermärkte, Krankenhäuser. Russische Raketen und Bomben treffen in der Ukraine offenbar oft zivile Ziele und wären damit Kriegsverbrechen. Das haben Untersuchungen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ergeben.
Können die Aussagen Folgen für den Botschafter Melnyk haben?
Erst vergangene Woche hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj ukrainische Botschafter in fünf Staaten entlassen. Wie auch Melnyk waren sie noch von der Vorgängerregierung eingesetzt gewesen. Bislang gibt es keine Anzeichen, dass die Kontroverse Melnyk seinen Botschafterposten kosten könnte.
Einsicht scheint Melnyk zudem keine zu zeigen. Nach Veröffentlichung des Interviews teilte er auf Twitter mehrfach gegen Kritiker aus. "Die Ukrainer brauchen keine postkolonialistischen Geschichte-Tipps aus Deutschland", schrieb er dem Pianisten Igor Levit.
Im Kanzleramt scheint man die Debatte indes genau zu verfolgen. Die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann wies auf Twitter auf das "Jung & Naiv"-Interview hin. "Falls sich jemand fragen sollte, ob zwischen Botschaft und Kanzleramt noch was zu retten ist", so ZDF-Korrespondent Andreas Kynast dazu.
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