Deutsche Außenpolitik war seit vielen Jahren vom Multilateralismus geprägt, von Rücksichtnahme auf die Interessen anderer. Der Ukraine-Krieg holt uns zurück in die Realität.
Von einer Zeitenwende hat der Bundeskanzler gesprochen, vor dem Bundestag, vor gut drei Wochen. Mit Russlands brutalem Angriffskrieg auf die Ukraine verpufft eine Idee, die deutsche Außenpolitiker, allen voran der ehemalige Außenminister Heiko Maas, wie eine Monstranz vor sich hergetragen haben. Multilateralismus war das Zauberwort deutscher Außenpolitik der vergangenen Jahre, ein Begriff, der irgendwie nach Vernunft klingen sollte, den aber auch der Ex-Außenminister nie so recht erklären konnte.
Im Kern bedeutet Multilateralismus, dass Staaten ihre eigenen Interessen nicht ohne Rücksicht auf die Interessen anderer Länder verfolgen. Das hört sich gut an, friedlich, vernünftig und weise, ein bisschen nach Immanuel Kant und seinem kategorischen Imperativ:
Die Botschaft an die Welt: Wir sind die Guten. Auf den Schlachtfeldern in der Ukraine aber zeigt sich, dass dieses Konzept nie mehr war als "Wishful Thinking". Wir haben uns die Welt schöner gemalt als sie ist und unsere Gegner dabei stärker gemacht als sie waren.
Im Gespräch mit heute-journal-Moderator Claus Kleber erzählte Angela Merkel 2018 von den Herausforderungen, vor denen Europa steht und sprach von einer "Krise des Multilateralismus".
Putin will Vorherrschaft des Westens brechen
So richtig es ist, Rücksicht zu nehmen auf die Interessen der Schwächeren, so selbstmörderisch ist es Rücksicht zu nehmen auf die Interessen derer, deren erklärtes Ziel es ist, Schwächere zu dominieren oder zu vernichten, so wie es Russland gerade in der Ukraine versucht.
Ob Georgien, die Krim oder der Donbass - seit vielen Jahren ist klar, der Diktator im Kreml hält sich nicht an die Spielregeln sympathischer deutscher Außenpolitik. Sein erklärtes Ziel war und ist es, die Vorherrschaft des Westens zu brechen, die Nato und die EU und die Demokratien in sich selbst zu spalten und die US-Truppen aus Europa zu vertreiben.
- Soll der Westen noch mit Putin verhandeln?
Die diplomatischen Bemühungen des Westens einen Krieg in der Ukraine zu verhindern sind gescheitert. Werden sie ihn nun zumindest stoppen können?
Europa und die Nato sind für ihn Papiertiger, moralisch verkommen und dekadent, die am Ende nicht bereit sind, ihre Werte und ihre Verbündeten zu verteidigen.
Mit Bomben und Granaten stellt er EU und Nato auf die Probe
Die wochenlangen Debatten in Feuilletons und Talkshows darüber, dass man die berechtigten Interessen Russlands doch berücksichtigen müsse (Debatten, in denen die berechtigten Interessen der Ukraine und seiner Bürger*innen nur am Rande vorkamen), hat ihn in seinen Annahmen weiter bestärkt.
Jeden Tag testet er uns. Die Zerstörung und Vernichtung ganzer Städte, tausende Leben völlig unschuldiger Menschen, deren Leiber im "Stahlgewitter" russischen Bomben- und Granathagels zerfetzt werden, Millionen Menschen auf der Flucht - Putin lotet aus, wie weit er gehen kann.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, kann "nichts mehr ernst nehmen", was von Putin kommt. Der Kreml habe "zu oft gelogen und betrogen".
Konzept des Multilateralismus ad absurdum geführt
Mit jeder Eskalation macht er klar, dass er das Heft des Handelns in der Hand hat. Auf der großen politischen Bühne verhöhnt er die Welt, lässt seinen Botschafter bei den Vereinten Nationen und seinen Außenminister verkünden, Russland habe die Ukraine gar nicht angegriffen.
Auf perverse Art hat er das Konzept des Multilateralismus ad absurdum geführt und in sein Gegenteil verkehrt. Er verfolgt seine großen geopolitischen Ziele, während er das Interesse des Rests der Welt berücksichtigt, einen Weltenbrand zu verhindern. Er spielt mit unseren Ängsten vor einem Dritten Weltkrieg und dem Einsatz von Atomwaffen.
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Keine Zeitenwende, sondern Erwachen?
Putin und seine Helfer zwingen der Welt einen Krieg auf, der erst möglich wurde, weil wir viel zu lang die Interessen eines menschenverachtenden Despoten und seiner Großmachtfantasien berücksichtigt und rationalisiert haben.
Die Vereinten Nationen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet in der Hoffnung, dass internationales Recht und internationale Institutionen Gewalt als Mittel der internationalen Politik einmal ersetzen könnten.
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:
Liveblog- Aktuelles zum Krieg in der Ukraine
Russlands Angriff auf die Ukraine dauert an. Es gibt Sanktionen gegen Moskau, Waffen für Kiew. Aktuelle News und Hintergründe zum Krieg im Blog.
Vielleicht erleben wir gar keine eine Zeitenwende, sondern erwachen nur aus einem Traum und müssen einsehen, dass die Welt ist, wie sie ist, dass mächtige Aggressoren nur durch größere Macht in Schach gehalten werden können.
Große Debatte über die Zukunft nötig
Politik und Gesellschaft müssen sich jetzt die unbequeme und lange politisch inkorrekte Frage stellen, ob wir im Kampf um die Zukunft gewinnen wollen und wie weit wir bereit sind, dafür zu gehen.
Dafür aber braucht es eine große politische Debatte darüber, wer wir sind und wohin wir wollen und welche langfristigen Interessen wir dabei verfolgen; multilaterale Zusammenarbeit kann eines davon sein.
Doch Gewinnen wollen heißt, dass man bereit sein muss, im Zweifel seine Interessen auch ohne Rücksicht auf die Interessen anderer durchzusetzen.
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