Über eine militärische Option will Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nicht spekulieren. Aber die russischen Truppen in der Ukraine verurteilt er im ZDF-Interview scharf.
ZDFheute: Herr Stoltenberg, wie gut schlafen Sie derzeit?
Jens Stoltenberg: Ich schlafe gut. Ich denke, auch wenn uns die Situation große Sorge bereitet und wir sehen, dass Russland in der Nähe der Ukraine militärische Kräfte aufbaut: Es gibt keine direkte Bedrohung eines Nato-Alliierten. Nato-Alliierte stehen zusammen, wir haben den Geist und die Fähigkeit, unsere Alliierten zu schützen und zu verteidigen.
ZDFheute: Wie sicher sind Sie, dass der Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine nicht ein Bluff von Putin ist?
Stoltenberg: Es gibt keine Gewissheit, warum Russland militärische Kräfte an die Grenze zur Ukraine bringt. Was wir wissen: Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr gibt es dort eine bedeutende Zahl an militärischen Truppen.
Wir wissen auch, dass Russland bereits solche Kräfte gegen die Ukraine eingesetzt hat. Ja, es gibt keine Klarheit - aber wir sehen das Aufgebot an der ukrainischen Grenze. Das macht es nötig, wachsam zu sein, genau zu beobachten, was Russland tut, und eine klare Botschaft nach Russland zu senden, Spannungen abzubauen, transparent zu sein und zu deeskalieren, um einen Vorfall oder Unfall oder eine sonstige gefährliche Entwicklung zu vermeiden.
ZDFheute: Sie haben wiederholt gesagt, dass die Nato bereit steht, Alliierte zu verteidigen. Gleichzeitig haben Sie betont, dass eine Attacke auf die Ukraine nicht den Bündnisfall zur Folge hätte, weil die Ukraine kein Mitglied der Nato ist. Was könnte die Nato denn tun, wenn ein solcher Angriff passiert?
Stoltenberg: Wir haben verschiedene Optionen und das müssen die 30 Allliierten entscheiden. Wir haben ja schon gesehen: Die Nato-Alliierten sind bereit, Russland mit harten Sanktionen zu belegen - so ist es nach dem Einsatz von militärischen Kräften Russlands gegen die Ukraine 2014 geschehen. Die militärische Präsenz der Nato wurde im Osten der Allianz stark erhöht als Konsequenz auf die militärischen Aktionen Russlands gegen die Ukraine.
Wir haben unsere gemeinsame Verteidigung seit dem Kalten Krieg am stärksten ausgebaut, auch mit den Kampftruppen in den baltischen Staaten, Deutschland führt Litauen an und Kanada in Lettland.
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ZDFheute: Können Sie definitiv ausschließen, dass sich Nato-Truppen militärisch in der Ukraine engagieren?
Stoltenberg: Die Nato unterstützt die Ukraine, Nato-Alliierte führen Trainings durch oder stellen Ausrüstung zur Verfügung. Und wir unterstützen die Ukraine weiter. Das Letzte, was wir tun sollten, ist, über potenzielle Optionen zu spekulieren.
ZDFheute: Sanktionen wären eine Möglichkeit, aber bis jetzt haben die Sanktionen ja nicht zu einem Wandel in Putins Verhalten geführt. Also funktionieren sie nicht wirklich.
Stoltenberg: Ich bin sicher, dass die Sanktionen, die der Westen und einige andere Teile der Welt gegen Russland verhängt haben, Auswirkungen haben auf die russische Kalkulation. Aber natürlich gibt es einen Unterschied zwischen der Ukraine als Partner, den wir unterstützen, und Lettland, wo wir jetzt sind, wo es eine hundertprozentige Garantie gibt, dass alle Alliierten kommen werden und verteidigen. Ein Drittel der Nato ist bereits hier, zehn Alliierte sind Teil der Nato-Kampftruppe in Lettland.
ZDFheute: Wir haben heute die Nato-Übung "Winter shield" verfolgt. Russland verurteilt solche Übungen. Warum sind solche Übungen dennoch nötig?
Stoltenberg: Das gibt es seit mehreren Jahren, es ist transparent, das ist eine defensive Nato-Präsenz, eine Übung auf Nato-Gebiet. Das ist absolut unser Recht und überhaupt nicht aggressiv. Was wir in der Ukraine sehen, ist etwas komplett anderes, das ist eine ungewöhnliche, ungerechtfertigte und nicht transparente militärische Aktion. Und Russland hat bereits früher militärische Kräfte gegen die Ukraine eingesetzt, deshalb sind wir über den militärischen Aufmarsch Russlands so besorgt.
ZDFheute: Wären die Kampftruppen hier in Lettland denn auch in der Lage, woanders zum Einsatz zu kommen?
Stoltenberg: Diese Kampftruppen sind Verteidigungskräfte, die sind hier, um Nato-Alliierte zu schützen. Und es war überhaupt kein Thema, hier in diesem Teil der Allianz irgendeine Kampftruppe zu platzieren, bevor Russland militärische Kräfte gegen die Ukraine eingesetzt hat. Das ist eine Konsequenz auf die aggressiven Aktionen Russlands gegen die Ukraine von 2014, die die Souveränität und Integrität der Ukraine verletzt haben. Deshalb haben wir die Kampftruppen in der baltischen Region gegründet.
Das Interview führte Florian Neuhann. Er ist ZDF-Korrespondent in Brüssel.