Karl Nehammer übernimmt in Österreich ein schweres Erbe von Ex-Kanzler Kurz. Nach der Implosion dessen politischen Systems muss er als künftiger Kanzler ein eigenes Profil finden.
Karl Nehammer wirkt immer pflichtbewusst und entschlossen, wenn er vor die Presse tritt, am heutigen Freitag kam eine Spur Angriffslust dazu. Denn es sind neue, große, und sicherlich auch unerwartete Aufgaben, die der Innenminister und Ex-Soldat nun in Angriff nimmt: Bundesparteiobmann der ÖVP und Bundeskanzler der Republik Österreich.
Alte ÖVP kommt zurück
Er übernimmt nun, nach dem Rückzug von Sebastian Kurz. Und mit Nehammer kommt ein Stück weit die alte ÖVP zurück, das zeigte sich heute sogleich: denn ein Landeshauptmann ließ es sich nicht nehmen, schon vor Nehammer einige Neubesetzungen im Kabinett zu verkünden - das wäre unter Kurz nicht passiert.
Kurz hat dafür gesorgt, dass alles auf ihn zulief, nun aber ist die "alte", schwarze ÖVP zurück, mit den vielen Stimmen aus den Bundesländern. Karl Nehammer, das ist jetzt schon klar, wird mehr Rücksicht auf sie nehmen müssen als Sebastian Kurz.
Türkises System implodiert
Es implodiert jetzt das türkise System: Kurz hatte bei seinem rasanten Aufstieg die Parteifarbe von schwarz auf türkis geändert und durchgesetzt, dass die sonst so mächtigen Landesverbände nichts mehr mitzureden haben bei der Postenbesetzung.
In Österreich muss die ÖVP ihre Regierung personell umbauen. Fest steht dabei bereits, dass Innenminister Karl Nehammer Kanzler wird. ZDF-Korrespondentin Britta Hilpert berichtet.
In den vier Jahren seiner zwei Kanzlerschaften hat er aber an vielen Stellen Vertraute installiert. Und er hat dafür gesorgt, dass alles auf ihn zulief, er hat bestimmt, wer was wann sagen darf. "Message Control" war wohl der wichtigste Pfeiler der Macht von Sebastian Kurz.
Kurz: "Für mich beginnt ein neues Kapitel"
Der zweifache Alt-Kanzler beherrschte den perfekten Auftritt bis zur letzten Minute: Sebastian Kurz ließ sein Statement kurzfristig ankündigen, trotzdem waren alle da, denn der Rückzug lag schon in der Luft. Zu lust- und glanzlos agierte der Ex-Kanzler als Klubobmann im Nationalrat, die Rolle des angriffslustigen Fraktionsführers liegt ihm nicht so sehr wie die des souveränen Regierungschefs, der - so seine Sicht - zu Unrecht angegriffen wird.
Die Ermittlungen gegen ihn und sein Umfeld zu Bestechung und Bestechlichkeit, Postengeschacher und Untreue haben die Flamme seiner Politikbegeisterung ein wenig kleiner werden lassen, sagt er am Donnerstag. Aber das allein war es nicht, sagt er. Die Geburt seines Sohnes habe ihm gezeigt, dass es außerhalb der Politik auch anderes Schönes gebe.
Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz kehrt ab sofort der Politik vollständig den Rücken zu. Sehen Sie hier seine Erklärung für die Entscheidung im Video.
Neuwahlen nicht zu erwarten
Es löst in Wien eine Politlawine aus: nur sechs Stunden nach der Rückzugsankündigung von Kurz stellt Bundeskanzler Alexander Schallenberg sein Amt zur Verfügung. Der Mann, der von Sebastian Kurz nach Bekanntwerden der Ermittlungen das Amt übernahm, als der vor sieben Wochen beiseitetrat, Platz machte, um "Chaos" zu vermeiden.
Aber nicht nur "Platzhalter" Schallenberg geht, auch der Finanzminister und enge Kurz-Vertraute Gernot Blümel, der immer ein bisschen wie ein Kurz-Klon wirkt und nun auch im Abgang Politikmüdigkeit und die Geburt eines Kindes als Grund für den Rückzug angibt.
Darüber hinaus wird Bildungsminister Heinz Faßmann ausgetauscht, er war Minister von Kurz' Gnaden ohne eigene Parteihausmacht. Mit Neuwahlen ist erst einmal nicht zu rechnen, auch weil keine der größeren Parteien ein Interesse daran haben dürfte.
Nehammer übernimmt schweres Erbe
Karl Nehammer muss nun ein eigenes Profil mit eigenen Leuten entwickeln und dabei alle einbinden: die Bundesländer, die alten ÖVP-Granden, seinen Koalitionspartner, die Grünen, und auch die, die Sebastian Kurz ein wenig nachweinen. Bezeichnend, dass er Sebastian Kurz‘ "Platzhalter" Alexander Schallenberg nun wieder zum Außenminister macht.
Karl Nehammer übernimmt ein schweres Erbe vom verglühten Politstar Kurz: der hatte die ÖVP in sehr kurzer Zeit in ungeahnte Höhen geführt, aber er hat sie nun auch in einer tiefen Krise zurückgelassen. Er hat auch ein Land zurückgelassen im Lockdown, in einer unbewältigten Corona-Krise. Und eine Koalitionsregierung, die immer spannungsgeladen war. Man braucht viel Pflichtbewusstsein und Entschlossenheit, um diese Situation zu meistern.
Österreichs Ex-Bundeskanzler hat seinen Rücktritt als Partei- und Fraktionschef der ÖVP verkündet. Zuvor hatte es Ermittlungen wegen eines möglichen Korruptionsfalls gegeben.
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