Wie Russland die angebliche Hersh-Enthüllung ausnutzt

Seymour Hersh hat keinen Beweis für seinen Bericht. Er beruft sich stattdessen auf eine einzige, anonyme Quelle - obwohl es laut Hersh selbst etliche Beteiligte und Mitwisser bei der Aktion gegeben habe: von der US-Regierung, der CIA, der U.S. Navy bis zur norwegischen Marine und der Regierung Norwegens. Diese eine Person habe "direkte Kenntnis der operativen Planung". Es handele sich um eine Quelle, die "ziemlich viel darüber zu wissen scheint, was vor sich ging", sagte Hersh der russischen Nachrichtenagentur "Tass". Den Namen könne er "offensichtlich" nicht verraten.

Indem sich Hersh auf eine einzige, anonyme Quelle für seinen gesamten Bericht stützt, missachtet er grundsätzliche, journalistische Standards. Diese erfordern unter anderem das sogenannte "Zweiquellenprinzip" - dass Informationen durch mindestens zwei zuverlässige und voneinander unabhängigen Quellen bestätigt werden.

Eine Reihe von Ungereimtheiten und Mängel bei der Plausibilität lassen Hersh Version fragwürdig erscheinen: So passierte die Explosion ausgerechnet im September 2022, als sowieso bereits kaum noch russisches Gas durch die Pipelines floss und die Nato relativ eng zusammenstand. Wären tatsächlich zwei Bündnispartner für den Anschlag verantwortlich - die USA und Norwegen - würde diese Einigkeit aufs Spiel gesetzt, sagte Julian Pawlak von der Universität der Bundeswehr in Hamburg der ARD-"Tagesschau": "Ein Angriff auf Deutschland, einen anderen Bündnispartner, würde ja den ganzen Zusammenhalt torpedieren."

Zudem: Sollten die USA und Norwegen wirklich geplant haben, den Rest von Europa von der Nordstream-Gasversorgung endgültig abzuschneiden, wie Hersh behauptet - warum ist dann eine der Röhren unbeschädigt geblieben? Auch dafür liefert Hersh keine plausible Erklärung.

Seymour Hersh galt jahrelang als Reporter-Legende. 1970 erhielt er den Pulitzer-Preis, weil er das Massaker von My Lai aufgedeckt hatte, ein schreckliches Kriegsverbrechen der US-Armee im Vietnam-Krieg. 2004 war er der erste, der über Folter der US-Armee im irakischen Abu Ghuraib berichtete.

Doch der 85-Jährige fiel zuletzt auch mit fragwürdigen Behauptungen auf, die teils widerlegt werden konnten: So behauptete er beispielsweise mit Verweis auf wenige anonyme Quellen, ein Giftgasangriff in Syrien sei inszeniert worden, auch die Tötung des al-Qaida-Anführers Osama bin Laden sei völlig anders abgelaufen, als offiziell verbreitet wurde. Kritiker werfen Hersh die Verbreitung von Verschwörungstheorien und eine vermeintliche Nähe zum syrischen und russischen Regime vor.