Die Gegenoffensive der Ukraine in der Region Cherson ist in vollem Gange. Das Militär konnte bisher kleinere Gebiete gewinnen. Warum schnelle Erfolge aber unwahrscheinlich sind.
Gegenangriff gingen lange Vorbereitungen voraus
Am frühen Morgen des 29. August hat die Ukraine ihren lang erwarteten Gegenangriff in der besetzten Region Cherson gestartet. Kiew hat den Angriff so lange hinausgezögert, bis die Nachschublinien und die Luftabwehr der russischen Streitkräfte und ihre lokalen Kommandostrukturen geschwächt waren.
Deshalb gingen dem Angriff wochenlange akribische Bemühungen voraus, die Logistik- und Nachschublinien der westlich des Flusses Dnipro stationierten russischen Streitkräfte zu untergraben.
Die ukrainische Offensive startete in fünf verschiedene Richtungen gleichzeitig. Den Angriffen gingen konzentrierter Artilleriebeschuss und Luftangriffe voraus. Dies zeigt, dass die ukrainische Luftwaffe durchaus in der Lage ist, den Kampf der Bodentruppen zu unterstützen.
Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte, dass es sich bei dem Angriff tatsächlich um die lang erwartete Gegenoffensive handelt, und versprach, alle besetzten Gebiete zurückzuerobern. Außerdem rief er die russischen Streitkräfte westlich des Dnipro auf, zu fliehen.
Brücken unbrauchbar für russische Logistik
Die Ukraine setzte geschickt westliche Präzisionsartilleriesysteme - in erster Linie die in den USA hergestellten HIMARS-Mehrfachraketenwerfer – ein, um russische Munitionsdepots, Kommandoposten, Verkehrsknotenpunkte und vor allem die drei Brücken, die über den Dnipro im besetzten Gebiet Cherson führen, zu zerstören.
Bereits vor dem Angriff waren alle Brücken unbrauchbar gemacht worden und konnten nicht mehr von schweren Militärfahrzeugen befahren werden. Die russischen Reparaturbemühungen waren angesichts der wiederholten Präzisionsschläge der Ukraine vergeblich.
Russland versuchte, Pontonbrücken über den Fluss zu errichten, doch die ukrainische Artillerie zerstörte oder beschädigte auch diese. Schließlich begannen die russischen Truppen eine massive schwimmende Brücke aus großen Frachtkähnen direkt unter der Antonowsky-Brücke zu errichten, wo der massive Brückenkörper Schutz vor den HIMARS-Raketen bieten sollte. Allerdings konnten die Arbeiten nicht vor Beginn der ukrainischen Gegenoffensive abgeschlossen werden.
Einige Tage vor dem Angriff beschädigte die Ukraine auch die für die Überquerung des Flusses Inhulets wichtige Dariwka-Brücke, um die russischen Streitkräfte westlich des Dnipro weiter zu spalten. Außerdem setzt die Ukraine die von den USA gelieferten AGM-88 HARM-Radarraketen effizient gegen die russische Luftabwehr ein.
Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, da die russischen Luftstreitkräfte ihre Operationen in der Region Cherson ohnehin reduzieren müssen, weil sie von ihren westlichsten Stützpunkten auf der Krim abgezogen und auf weiter entfernte Flughäfen verlegt wurden.
Ukrainische Durchbrüche wurden zurückgedrängt
Derzeit wird in allen fünf Richtungen gekämpft. Allerdings ist es nahezu unmöglich, im so genannten "Nebels des Krieges" die genauen Ereignisse zu rekonstruieren.
Soweit es sich aus offenen Quellen rekonstruieren lässt, durchbrachen ukrainische Streitkräfte zunächst die vorderen russischen Verteidigungslinien und konnten kleine Gebiete, darunter einige Siedlungen, erobern. Eine zwangsmobilisierte Einheit aus Donezk gab ihre Stellungen auf, nachdem sie schwere Verluste erlitten hatte.
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Am zweiten Tag wurde der ukrainische Vorstoß jedoch durch die befestigten russischen Stellungen und das konzentrierte Feuer der russischen Artillerie gebremst. Den russischen Kräften gelang es, die ukrainischen Truppen in zwei Richtungen fast bis auf ihre Ausgangspositionen zurückzudrängen.
Als Gegenmaßnahme begann die Ukraine, ihre HIMARS-Werfer auch gegen Ziele an der Frontlinie einzusetzen, was ein Novum darstellt, da die HIMARS-Systeme bisher nur für Schläge weit in feindliches Gebiet hinein verwendet wurden.
Aufgrund der vielschichtigen russischen Verteidigungslinien ist jedoch nicht mit einem plötzlichen ukrainischen Durchbruch oder einer blitzkriegartigen Operation zu rechnen, sondern eher mit einer sich langsam fortbewegenden Offensive.
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Separatistenreferendum dürfte passé sein
In Anbetracht der derzeitigen Lage erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass Russland sein ursprünglich für die zweite Septemberwoche geplantes Separatistenreferendum in der Region Cherson abhalten kann.
Dieses Zwischenziel hat die ukrainische Gegenoffensive bereits erreicht, unabhängig davon, wie sich die Kämpfe in naher Zukunft entwickeln werden.
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