Die Lage an Polens Ostgrenze spitzt sich zu: Tausende Geflüchtete wollen illegal in die EU einreisen. Die Situation aus der Sicht von ZDF-Reportern in Moskau, Warschau und Brüssel.
Die EU schaut Richtung Nordosten. An der Grenze zwischen Polen und Belarus stehen sich geflüchtete Menschen und Sicherheitskräfte gegenüber. Die Menschen wollen in die EU, befeuert von Versprechungen des belarussischen Machthabers Lukaschenko. Drei ZDF-Reporter und -Reporterinnen berichten.
Moskau: Putin schaut sich Lage ganz genüsslich an
Von Christian Semm, Moskau: Hier in Moskau beobachtet man die Situation ganz genau. Die Lage sei angespannt und alarmierend, hieß es heute aus dem Kreml und man fordere ein verantwortungsvolles Verhalten aller Beteiligten. Es gibt ja nur noch wenige, die wirklich Einfluss nehmen können auf Diktator Lukaschenko und sein Handeln in Belarus.
Erst letzte Woche hatte sich Wladimir Putin bei einem Gespräch demonstrativ hinter den Machthaber gestellt, auch weil man die Errichtung eines Unionsstaates zwischen Belarus und Russland weiter voran treiben will.
Also Putin wäre wohl der einzige, der Lukaschenkos Treiben ein Ende bereiten könnte, aber daran gibt es hier gar kein Interesse. Man schaut sich die Lage hier ganz genüsslich an, das russische Staatsfernsehen berichtet ausgiebig und russische Journalisten können im Gegensatz zu vielen anderen Kolleginnen und Kollegen auf der belarussischen Seite der Grenze arbeiten.
Die Bilder sollen gesehen werden, denn es ist wieder einmal die vortreffliche Gelegenheit, ein Bild zu zeichnen von einem Europa im Chaos, das an seinen Außengrenzen, an den eigenen Idealen scheitert. Das russische Außenministerium teilte noch mit, dass der belarussische Außenminister heute zu Gesprächen nach Moskau kommt. Und man kann davon ausgehen, dass bei den Gesprächen dann auch das weitere Vorgehen in Belarus beraten wird.
12.000 Soldaten sichern die Grenze in Polen
Von Anne Brühl, ZDF-Reporterin: Viele Geflüchtete wollen über Belarus in die EU, ein Großteil von ihnen nach Deutschland. „Deutschland, Deutschland“, hört man die Menschen an der Grenze zu Polen rufen. Einige wenige sind auf diesem Weg bereits in die EU gekommen, die meisten sind in den Waldgebieten gestrandet.
Fast alle werden mit falschen Versprechungen von Lukaschenko gelockt - und sind dann vor Ort völlig überfordert mit den Bedingungen, auf die sie treffen. Der belarussische Machthaber hat mit den Menschen ein Druckmittel in der Hand. Die Frage lautet nun: Wie viele Menschen lässt er noch einreisen, wie sehr spielt er die Karte weiter aus – und wie stark lässt ihn die Macht im Hintergrund, Russland, gewähren?
Doch auch Polen steht in der Kritik: 12.000 Soldaten sichern jetzt die Grenze nach Belarus – eine Zone, die sie selbst Sicherheitszone nennen und in der der Ausnahmezustand gilt. Was darin passiert, weiß keiner. Weder Journalisten noch Hilfsorganisationen sind zugelassen.
Fotos zeigen Menschen, die im Wald kampieren. Dazu die illegale Zurückweisungen nach Belarus - obwohl in Europa das Recht auf Asyl gilt. Von Polen zurückgeschickt, von den Belarussen nicht wieder ins Land gelassen. Leben im Niemandsland, ohne Winterkleidung, ohne Schuhe - bei Temperaturen, die nachts unter den Gefrierpunkt fallen. Die polnischen Behörden argumentieren, wenn sie die Geflüchteten befragten, wollten viele nicht in Polen bleiben. Überprüfen lassen sich diese Angaben aber nicht.
EU: Warten auf Anfrage durch Warschau
Von Florian Neuhann, Brüssel: Dass der geschäftsführende Noch-Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) heute via Bild-Zeitung ein "Einschreiten" der EU fordert: Das verwundert viele in Brüssel. Tatsächlich mag Europa an vielen außenpolitischen Brandherden zu spät oder zu lasch reagiert haben: In diesem Fall aber liegt das weniger an der EU-Kommission.
Die hat, wie ihre Sprecher erklären, Polen regelmäßig Hilfe angeboten - etwa der Grenzschutzbehörde Frontex, die ihren Hauptsitz ausgerechnet in Warschau hat. Doch Polen müsste diese Hilfe selbst anfordern. Was die polnische Regierung bisher nicht tat. So sind "Brüssel" zumindest in dieser Frage die Hände gebunden.
Was bleibt, sind zum einen rhetorische Eskalationen - auch wenn da mittlerweile nicht mehr viel Spielraum nach oben ist. Selten scharf verurteilen die Spitzen der EU bereits seit Wochen den Ansturm der Flüchtlinge als gezielte Instrumentalisierung durch den belarussischen Diktator Lukaschenko.
Und so rückt erneut die Frage nach schärferen Sanktionen in den Blick, etwa gegen die Airlines, die Menschen nach Belarus befördern - unter anderem die belarussische Airline Belavia, die die Flüge etwa aus dem Nahen Osten nach Minsk anbietet und damit gewissermaßen "Menschenhandel" betreibt. Ob der aktuelle Ansturm so allerdings gelöst wird, darf bezweifelt werden.