Proteste in Russland: Kippt die Stimmung gegen den Kreml?
Proteste in Russland:Kippt die Stimmung gegen den Kreml?
22.09.2022 | 19:42
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Mit Putins Teilmobilmachung betrifft der Krieg in der Ukraine die Russen nun direkt. Es gibt Proteste. Viele wollen nicht kämpfen. Die Unterstützung für den Kreml könnte schwinden.
Hundertschaften des Sicherheitsapparats von Kremlchef Wladimir Putin prügeln in vielen Städten die größten Anti-Kriegs-Proteste in Russland seit Monaten nieder. Nach spontanen Straßenaktionen gegen die von Putin verfügte Teilmobilmachung sind noch immer mehr als 1.000 Menschen in Gewahrsam.
Obwohl die Behörden vor der Teilnahme gewarnt hatten, "sind Hunderte gekommen und haben ihren Unmut auf die Straße gebracht", berichtet ZDF-Korrespondent Christian Semm aus Moskau.
Die Sicherheitskräfte sind sehr hart dazwischen gegangen: Es gab Prügelszenen und gewaltsame Verhaftungen.
Christian Semm, ZDF-Korrespondent
Das werde den ein oder anderen sicherlich abschrecken, so Semm. "Trotzdem kann es natürlich sein, dass der Unmut wächst." Laut Semm sind weitere Proteste geplant. Es sei jedoch fraglich, wie viele trotz des harten Durchgreifens der Sicherheitskräfte auf die Straße gehen. "Denn die großen oppositionellen Anführer, die bekannt sind und die Massen auf die Straße bringen können, die gibt es hier in Russland nicht mehr."
Trotz der Proteste ziehen die Behörden mit aller Härte den Erlass durch, Reservisten für den Krieg in der Ukraine einzuziehen. Damit erfasst der Krieg erstmals auch Russen und ihre Familien, die unfreiwillig in das Blutvergießen hineingezogen werden. Bisher setzte Putin auf Freiwillige. Jetzt ist der Krieg allgegenwärtig.
Krieg betrifft nun zum ersten Mal unmittelbar Russen
Viele erhielten den roten Zettel mit der Aufforderung, sich im Wehrkreiskommando einzufinden, schon am Mittwoch, kurz nachdem Putins im Fernsehen angekündigte Mobilmachung das Land wie eine Schockwelle erfasste.
Der Präsident betonte, dass eine Frontlinie von 1.000 Kilometern entlang der besetzten Gebiete gesichert werden müsse. Es geht aus seiner Sicht um einen Kampf für Russlands Überleben. Das Land werde vom Westen, von den USA und der Nato bedroht, behauptete der 69-Jährige. Der Krieg war für viele Russen bisher weit weg.
Stimmung in Russland könnte kippen
Nun sollen die Bürger des Landes an die Waffe gezwungen werden, um angebliche Personalprobleme der Armee zu lösen. Zwar haben viele Menschen in Russland bisher eher gleichgültig dem Krieg zugesehen und Putin Rückhalt bescheinigt. Aber die Stimmung könnte nun kippen. Umfragen zeigten nie eine große Bereitschaft der Bürger, selbst gegen ukrainische Brüder und Schwestern in den Kampf zu ziehen.
Schon nach Beginn von Putins Invasion in die Ukraine im Februar hatten viele Russen das Weite und Exil im Ausland gesucht. Aber jetzt sprechen viele von Panik. In Moskau erzählt ein 41 Jahre alter Mann auf der Straße, dass er gar keine Kampferfahrung oder echte Militärausbildung habe. Aber er ist Leutnant der Reserve.
Ich werde auf gar keinen Fall in diesem sinnlosen Krieg Putins kämpfen, ich gehe lieber ins Gefängnis.
41-jähriger Russe
Er hat Angst, dass er bei einem Ausreiseversuch festgehalten und direkt in die Ukraine geschickt wird: "Verstecken ist ein Ausweg. Aber die Unsicherheit ist das Schlimmste, man traut sich kaum auf die Straße", sagt der Ingenieur auch mit Blick auf die Proteste am Vorabend in Moskau. Aus einigen Teilen des Landes gab es Berichte darüber, dass Menschen massenhaft eingezogen wurden - teils aus dem Bett geholt wurden.
Politologe rechnet mit mehr Protesten
Die russische Staatsagentur Ria Nowosti ließ ihre Kommentarfunktion laufen - mit viel beißender Kritik an Putin. "Wo ist denn unsere professionelle Armee?", fragte ein Nutzer mit dem wohl nicht echten Namen Mischa Mischkin.
Die russischen Steuerzahler haben offenbar all die Jahre die Armee bezahlt, damit sie nun selbst dort irgendwo sterben.
Nutzer, der sich im Internt Mischa Mischkin nennt
Er fragte auch, wie Putin überhaupt dazu komme, Bürger zu einem Krieg auf einem anderen Staatsgebiet zu zwingen, obwohl gar kein Krieg erklärt sei.
Der russische Politologe Abbas Galljamow erwartet, dass die Proteste noch zunehmen könnten, wenn die Einberufungen für jeden greifbare Realität werden - und "diejenigen, die weg sind, in Särgen wieder zurückkehren, wenn die Bestattungen sind".
Für die bisher getöteten Vertragssoldaten, die freiwillig für Geld gekämpft hätten, habe sich kaum jemand interessiert. "Aber der Tod von Reservisten, das ist etwas ganz anderes. Das ist eine furchtbare Ungerechtigkeit."
Bei ihrer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat hat Außenministerin Baerbock Russland vorgeworfen, seine Bürger in den Tod zu schicken. Sie würdigte den Mut der Demonstranten.