Nuclear Messaging: Wie Worte im Ukrainekrieg zu Waffen werden
Angst vor dem Atomschlag:Nuclear Messaging: Wie Worte zur Waffe werden
von Sissy Hertneck
02.10.2022 | 12:28
|
Hat Putin dem Westen mit Atomschlägen gedroht? Experten sind sich einig: Das hat er. Wie Putin, aber auch der Westen "Nuclear Messaging" nutzen.
Alles nur rethorische Kriegsführung von Russlands Präsident Wladimir Putin (hier während einer Rede auf dem Parteitag von "Einiges Russland")? (Archivbild)
Die Welt hörte ganz genau hin, als der russische Präsident Wladimir Putin vergangenen Mittwoch mit dem Einsatz "aller zur Verfügung stehenden Mitteln" drohte, sollte die "territoriale Integrität" seines Landes bedroht sein. Putin weiter: "Das ist kein Bluff." Damit stieß Putin die Tür weit auf für Spekulationen, er könne auch Atomwaffen einsetzen.
Russlands Strategie: Angst schüren
Schon zu Beginn des Ukraine-Krieges hat Putin klar gemacht, dass jeder, der sich Russland in den Weg stelle, Konsequenzen von historischem Ausmaß spüren werde:
Wer auch immer versucht, uns zu behindern, […] muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.
Wladimir Putin, Präsident Russlands (Aussage vom 24. Februar 2022)
"Diese indirekten nuklearen Drohungen haben sich wiederholt", sagt Gerhard Mangott, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. Putin gehe es dabei immer darum, Unsicherheit zu verbreiten innerhalb der westlichen Regierungen und Bevölkerungen. Dass Putin droht, ist also nicht neu, so Mangott, "aber die militärische Lage Russlands hat sich verschlechtert." Allein deshalb müssten Putins Drohungen nun ernster genommen werden, meint Mangott.
Welche Worte wählt der Westen?
Dem Westen bleibt nur: Reagieren und Deeskalieren - aber wie? Sowohl Putins Drohungen als auch die Antworten des Westens werden als "Nuclear Messaging" bezeichnet. Es geht um den Austausch von Botschaften unter der Androhung, Nuklearwaffen einzusetzen.
"'Nuclear Messaging' also 'Nukleare Botschaft' bedeutet, der Gegenseite durch bestimmte rhetorische Einlassungen oder auch durch Veränderungen an dem nuklearen System zu signalisieren, dass man zum Einsatz von Atomwaffen bereit wäre", sagt Friedensforscher Ulrich Kühn.
Der Besitz von Atomwaffen befähigt einen Staat demnach zu Androhungen von verheerender Gewalt, mithilfe derer dann politisches Interesse durchgesetzt werden kann. Es geht also darum, Abschreckung strategisch zu nutzen. Heute besitzen neun Staaten - USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea – Atomwaffen.
Nicht nur Worte, sondern auch die Handlungen der Beteiligten – also beispielsweise mögliche Bewegungen in den Lagerstätten der Atomsprengköpfe, weitere Waffenlieferungen oder Panzerlieferungen an die Ukraine - zählen zum sogenannten Nuclear Messaging und senden eine Nachricht an die Gegenseite. Leiter des Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und Neue Technologien Ulrich Kühn am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg erklärt:
Wir sehen sowohl ein öffentliches als auch geheimes Messaging.
Ulrich Kühn, Friedensforscher
Kurz nach den Androhungen Putins äußerte sich Joe Biden bei der UN-Vollversammlung: "Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden." US-Außenminister Antony Blinken warnte Putin etwa vor den "katastrophalen Konsequenzen" eines Atomwaffen-Einsatzes:
"Wir haben den Russen sehr deutlich öffentlich und auch unter vier Augen gesagt, dass sie das Geschwätz über Atomwaffen sein lassen sollen." Bundeskanzler Olaf Scholz sagte in einem Interview wortwörtlich: "Lasst es bleiben." Ulrich Kühn erkennt darin eine klare Linie:
Alle haben im Grunde dieselbe Message an Putin: 'Tu es nicht', setze keine Nuklearwaffen ein. Das wäre ein absoluter Gamechanger in diesem Konflikt.
Ulrich Kühn, Friedensforscher
Gerald Mangott sieht in den Reaktionen das Dilemma einer verantwortungsvollen Politik: Risiken einschätzen – und gleichzeitig nicht einknicken vor einem Nuklearwaffenstaat, der ein anderes Land völkerrechtswidrig überfallt.
"Scholz hat den Eindruck des Einknickens versucht zu vermeiden", so Mangott: "Aber seine Entscheidung, keine Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, war von Anfang an genährt von der Furcht vor einer möglichen Eskalation. Mit den aktualisierten Nukleardrohungen, glaube ich, wird die Scholz-Position erst recht bekräftigt."
Kühn: Westen geht derzeit "einzig richtigen Weg"
Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Atomwaffen die Weltpolitik bestimmen: Zwar wurden Atombomben nur bei den Abwürfen über Hiroshima und Nagasaki als tatsächliche militärische Waffen genutzt, im Kalten Krieg reichte aber schon der bloße Besitz von nuklearen Sprengköpfen aus, um einen jahrelangen Konflikt aufrechtzuerhalten. Gerald Mangott erklärt:
Das gesamte nukleare Zeitalter ist geprägt vom Prinzip der Abschreckung.
Gerhard Mangott, Experte für internationale Beziehungen
"Die basiert auf dem Prinzip der wechselseitigen Vernichtungsfähigkeit der Nuklearstaaten. Das heißt, ein Staat kann einen Nuklearkrieg nicht gewinnen, sondern durch den Vergeltungsschlag der anderen Seite eben auch verlieren."
Und die Frage ist: Wird die nukleare Abschreckung des Westens Putin trotz seiner Not abhalten, Nuklearwaffen einzusetzen?
Gerhard Mangott, Experte für internationale Beziehungen
Das "Nuclear Messaging" des Westens hält Kühn bis jetzt für angemessen: "Der Westen könnte auf Konfrontation gehen und den Besitz der eigenen Atomwaffen betonen. Das sehen wir bisher nicht." Und weiter:
Wir beobachten lediglich die klare Botschaft an Putin: 'Dein Handeln wird Konsequenzen haben'. Die exakten Konsequenzen werden aber nicht genannt und die diplomatischen Kanäle werden offengehalten.
Ulrich Kühn, Friedensforscher
Das sei momentan der einzig richtige Weg, so Kühn.
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:
Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.