Vor einem Jahr wurde Alexej Nawalny, einer der einflussreichsten Oppositionellen Russlands, verurteilt. Welchen Einfluss hat er noch auf die russische Gesellschaft und Politik?
Spätestens seit seiner Vergiftung im August 2020 ist Alexej Nawalny weltweit bekannt. Er veröffentlichte investigative Videos zu Korruptionsskandalen der politischen Elite Russlands. Das Video über einen Palast am schwarzen Meer, der Russlands Präsident Wladimir Putin gehören soll, wurde über 121 Millionen Mal angeklickt. Nawalny ist zur Bedrohung für das Regime geworden, weil er die Mächtigen Russlands angreift.
Dreieinhalb Jahre Straflager für Nawalny
Am 2. Februar 2021 wurde er verurteilt: Dreieinhalb Jahre Haft in einem Straflager wegen mehrfachen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen seiner früheren Haftstrafe. Dass die Verstöße unvermeidbar waren, weil er nach seiner Vergiftung in Deutschland im Koma lag, zählte vor Gericht nicht.
Doch das Vorgehen gegen Nawalny blieb nicht folgenlos: Die Menschen gingen auf die Straße. Nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern im ganzen Land - je nach Quelle in 100 bis 196 weiteren Städten. "Putin ist ein Dieb", riefen sie. Die Menschen, die dort protestierten, waren nicht nur glühende Nawalny-Anhänger.
Es sei "weniger die Zustimmung zu [Nawalny] als vielmehr die Ablehnung Putins, die diese Gruppe vereint", so Journalistin Marija Lipman. Die Proteste wurden niedergeknüppelt, Nawalnys Organisationen ausgelöscht, seine prominentesten Anhänger haben Russland verlassen.
Auch Nawalnys Anhänger unter Druck
Mittlerweile sitzt Nawalny seit März 2021 im Gefängnis. Der "New York Times" berichtete er in einem Interview von psychischer Gewalt, die ihm angetan werde. Seine Unterstützer*innen befürchten, dass er die Haft nicht überleben könnte. In den letzten Monaten wurden zahlreiche Misshandlungsfälle in russischen Gefängnissen bekannt. Auch seine Anhänger*innen stehen unter immer höherem Druck. Die, die noch nicht das Land verlassen haben, werden meist strafrechtlich verfolgt.
Trotz der Haft und des extremen Drucks auf seine Verbündeten schafft Nawalny es immer wieder, die politische Tagesordnung zu beeinflussen. Er schreibt Briefe, geht in einen 24-tägigen Hungerstreik und verfasst Instagram-Posts.
Russlands Probleme bleiben
Ebenso verlieren die Themen, die die Menschen auf die Straße getrieben haben, nicht an Aktualität. Russlands Gesellschaft ist unzufrieden. Die Reallöhne sind seit den 2010er Jahren gesunken; 13,3 Prozent der Bevölkerung leben unter dem staatlich festgelegten Mindeststandard, den es zum Leben braucht. Gleichzeitig steigen die Repressionen. Während sich die Gesellschaft modernisiert, bewegt sich die politische Ebene in die entgegengesetzte Richtung. Nicht Nawalny, sondern die Umstände im Land sind Auslöser für die Proteste.
Russlands Oberster Gerichtshof hat die zwangsweise Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial angeordnet, die Verbrechen des ehemalig kommunistischen Regimes erforscht.
Doch Nawalny hat es verstanden, die fragmentierte Opposition über die lokale Ebene hinaus zu Zehntausenden auf die Straße zu bringen. "Diesen Erfolg zu wiederholen, während [er] inhaftiert ist und [während] gegen zahlreiche seiner Mitarbeiter strafrechtlich ermittelt wird, dürfte schwierig sein", so der Soziologe Denis Volkov.
Nawalny ist zwar umstritten, doch er konnte die Unzufriedenheit der Menschen teilweise bündeln. Er zeigte ihnen ein anderes Russland auf, ein Russland, das nicht von einer korrupten Elite und Repression gekennzeichnet ist. Das fehlt nun.
Der Opposition fehlt ein Anführer
Allerdings haben Kritiker in Russland nicht nur mit staatlicher Unterdrückung, sondern auch mit der Trägheit der Zivilgesellschaft zu kämpfen. Insbesondere der älteren Generation, die ihre Informationen aus dem Staatsfernsehen nimmt, erscheint Putin als alternativlos.
Und selbst unter Regimekritiker*innen hat Nawalny zwar Rückhalt, der offizielle Anführer der Opposition ist er jedoch nicht. Solch eine Person gibt es bisher nicht. Es fehlt an Strukturen und an einem gemeinsamen Ziel. Ohne ein einheitliches Auftreten werden die Proteste nicht mehr als ein wellenartiges Aufbegehren bleiben, das mit der Zeit an Kraft verliert. Das Regime weiß das.
Vor einem Jahr wurde Nawalny verurteilt. Am Jahrestag gehen die Menschen nicht auf die Straße. Stattdessen kommt die Anweisung an kritische Medienhäuser, die Berichterstattung über Nawalnys investigative Videos zu löschen, ansonsten drohe ihnen die Sperrung. Die Repressionen werden nicht weniger, stattdessen wird der Raum für kritisches Hinterfragen immer kleiner.