Diskussion um Einreise in die EU:Welche Folgen ein Visa-Stopp für Russen hätte
von Anna Grösch
20.08.2022 | 19:50
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Sollen Russen weiterhin mit touristischem Visum in die EU einreisen dürfen? An einem möglichen Visum-Verbot gibt es Kritik. Denn vielen scheint die Maßnahme ungerecht.
Russinnen und Russen genießen in Ruhe und Frieden ihren Urlaub in Europa, während Präsident Wladimir Putin mit seinem Angriffskrieg die Ukraine in Schutt und Asche legt: Dieses Bild sorgt seit Tagen für Aufruhr in der EU.
Einreise nach Europa schwieriger
Zwar ist die Einreise seit dem Krieg schwerer als früher, wegen der Sperrung des Luftraums ist sie nur noch zu Land möglich. Dennoch fordern einige Länder nun ein Visa-Verbot für russische Staatsbürger, Estland hat seine Visa-Regelungen für Menschen aus Russland verschärft. Die Bevölkerung soll Konsequenzen des Kriegs in der Ukraine zu spüren bekommen, so die Argumentation. Auch Finnland, Lettland und andere EU-Länder zeigen sich offen für Einreiseverbote für Russen mit touristischen Visa.
Ich finde es nicht richtig, dass russische Bürger als Touristen in die EU, den Schengen-Raum einreisen und Sightseeing machen können, während Russland Menschen in der Ukraine tötet.
Sanna Marin, Ministerpräsidentin von Finnland
Der tschechische Außenminister führt einen weiteren Grund an: Tätigkeiten des russischen Geheimdienstes in der EU sollten durch ein Visumsverbot erschwert werden. Wesentlich zurückhaltender gibt sich Kanzler Olaf Scholz. Es sei Putins Krieg, nicht der des russischen Volkes. Außerdem dürfe man russischen Staatsbürgern, die vor dem Regime flüchten, nicht den Weg in die EU erschweren.
Humanitäres Aufnahmeprogramm verpasst
Ein valides Argument, findet Jürgen Bast, Professor an der Uni Gießen mit dem Schwerpunkt öffentliches Recht und Europarecht. "Schränkt man die Schengenvisa-Vergabe ein, wäre das ein schwerer Schlag für die russische Opposition." Auch wegen Versäumnissen der Bundesregierung, die es in den vergangenen Monaten verpasst habe, diesen Menschen ein aufenthaltsrechtliches Angebot zu machen. Ein humanitäres Aufnahmeprogramm beispielsweise. "Das hätte über ein Sondervisum oder einen Aufenthaltstitel laufen können."
Wenn vom "Touristenvisum" die Rede ist, ist das Schengenvisum Typ C gemeint, das Einreisenden aus Nicht-Schengen-Staaten für 90 Tagen den Aufenthalt in Europa erlaubt. Genutzt werden kann es für touristische Aufenthalte, aber auch für Geschäftsreisen oder den Besuch von Freunden oder der Familie. Es gilt für den gesamten Schengenraum - unabhängig davon, von welchem Land es ausgestellt wurde.
Fluchtgründe oft zu unkonkret
Schränke man die Schengenvisa-Vergabe ein, blieben ausreisewilligen Russinnen und Russen nur noch ein Asylgesuch oder Ausbildungs- und Arbeitsmigration. Asyl zu beantragen sei aber für viele Oppositionelle nicht attraktiv, weil sie sich dann nicht mehr frei bewegen könnten - und es ist schwierig.
Denn die Gründe für die Flucht sind in Deutschland nicht immer gut belegbar. "Die Menschen haben Angst, zum Wehrdienst eingezogen zu werden oder sind im Dunstkreis von Dissidenten unterwegs", sagt Bast. Ob und wann darauf Konsequenzen vonseiten der russischen Regierung folgen, sei unklar.
Zum Terrorcharakter des russischen Regimes gehört es, unberechenbar zu sein.
Jürgen Bast, Rechtswissenschaftler an der Uni Gießen
Diese Gründe seien deshalb oft zu unkonkret und reichten nicht für die Bewilligung eines Asylantrags. Dann bleibe noch die Möglichkeit, als qualifizierte Fachkraft oder für Forschungs- und Ausbildungszwecke auszuwandern.
"Putin interessiert das nicht"
Aleksandr (Nachname ist der Redaktion bekannt) ist einer derjenigen, der das so gemacht hat. Er hat Russland vor dem Krieg verlassen und arbeitet mittlerweile als Wissenschaftler in den USA. Seine Familie ist noch in Russland. "Ich konnte fühlen, dass sich das Land in eine schlechte Richtung entwickelt", sagt er. "Und ich wollte weg, bevor es zu spät ist." Doch nicht alle können das. Deshalb sieht er die aktuelle Diskussion um den Visa-Stopp für die EU auch sehr kritisch.
Die Protestgruppe "YAV" sprüht in St. Petersburg Graffitis, klebt Plakate und dreht Videos gegen die russische Kriegspropaganda. Die Gruppe ist eine der letzten Protestgruppen.20.07.2022 | 10:49 min
"Meiner Meinung nach sollten die Rechte von Menschen nicht eingeschränkt werden, nur weil sie an einem bestimmten Ort geboren sind. Es ist ja nicht ihre Schuld, dass sie in Russland leben und das bedeutet auch nicht, dass sie die Taten der Regierung unterstützen." Außerdem glaubt er nicht, dass ein Visumsverbot konkrete Folgen nach sich ziehen könnte. "Putin interessiert sich nicht für die Visa von russischen Bürgern. Es würde ihm wahrscheinlich noch in die Hände spielen, weil mehr Menschen der russischen Propaganda glauben würden, dass der Rest der Welt Russland hasst."
Pro Asyl: Fliehende brauchen Fluchtwege
Alleingänge, wie zum Beispiel Estland sie mit seinem Visa-Verbot an den Tag legt, dürften nicht viel bringen. Denn das Visum eines Landes gilt für alle 26 Länder im europäischen Schengenraum. Die Frage, wie man mit der Vergabe der Tourismus-Visa fortfährt, soll bald bei einem EU-Außenministertreffen diskutiert werden. So schnell, wie mancher fordert, wird das Aussetzen der Schengenvisa wohl nicht kommen. Ohnehin müsse im Fall eines Verbots jede Anfrage einzeln geprüft werden, so eine Sprecherin der EU-Kommission. Ein grundsätzliches Verbot von Touristenvisa sei rechtlich nicht möglich.
Auch die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sieht ein generelles Verbot der Schengenvisa kritisch. Man beobachte die Entwicklungen mit Sorge. "Fliehende brauchen Fluchtwege. Wir wissen, dass es Oppositionelle gibt, die mit einem Schengenvisa nach Deutschland gekommen sind." Pro Asyl hält den Weg über ein humanitäres Aufnahmeprogramm für eine gute Lösung, wie eine Sprecherin sagt. "Doch das braucht viele Kapazitäten. Und wir haben gesehen, dass es die schon im Fall von Afghanistan nicht ausreichend gab."
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