In ländlichen Gebieten Sachsens fühlen sich viele Menschen "vom Staat alleingelassen". Was brennt ihnen unter den Nägeln? Wie reagiert die Politik? Eindrücke aus Mittelsachsen.
Eine holprige Landstraße führt von Mulda nach Dorfchemnitz: 1.500 Menschen leben in der Gemeinde nahe der Grenze zu Tschechien. Es gibt eine Bäckerei, einen Dorfladen, eine Arztpraxis, die Kita "Bergzwerge", eine Agrargenossenschaft und mehrere Handwerksbetriebe. Was es nicht mehr gibt, ist die Grundschule.
Grundgefühl vieler: Es geht bergab statt bergauf
Wer im Dorf mit den Leuten spricht, hört Sätze wie diesen: "Die Schule haben sie dicht gemacht - gegen unseren Willen." Oder diesen: "Die haben den Kontakt zu uns Bürgern verloren - zu DDR-Zeiten war das so, jetzt ist es wieder so." Oder diesen Satz: "Die interessiert überhaupt nicht, was hier los ist - die interessiert nur, wie sie uns weiter schröpfen können."
Die, das sind wahlweise die Regierenden in Dresden oder Berlin. Was einen nicht geringen Teil der Leute in Dorfchemnitz zusätzlich bedrückt: Das Gefühl, dass das Leben immer teurer wird, das Gefühl von Unsicherheit, das Gefühl, dass es mit der Gesellschaft eher bergab gehe als bergauf. "Das ist doch alles nicht mehr normal", meint ein Handwerker.
Vom Staat "nicht gehört oder sogar übergangen"
Zwar sei Dorfchemnitz alles andere als ein "Ort der völlig Frustrierten", sagt Pfarrerin Christine Klement im Gespräch mit ZDFheute. "Es gibt viele junge Familien, die hier gut leben." Doch herrsche bei einigen Einwohnern auch der Eindruck, vom Staat "nicht gehört oder sogar übergangen" zu werden.
Klement kommt exemplarisch auf die geschlossene Grundschule zu sprechen. Dieser Verlust tue den Menschen auch nach Jahren noch weh:
Warum die AfD im Osten punkten kann.
Davon hat Carolin Bachmann profitiert. Die 33-jährige Betriebswirtin stammt aus Dorfchemnitz, bei der Bundestagswahl erhielt die AfD-Direktkandidatin des Wahlkreises Mittelsachsen in ihrem Heimatort 52,3 Prozent der Erststimmen. Im gesamten Wahlkreis stimmten 33,4 Prozent der Bürger für Bachmann und wählten sie somit in den Bundestag.
Bezahlbarer Sprit, bessere Straßen, sichere Grenzen
Danach gefragt, was ihren Wählern besonders unter den Nägeln brenne, antwortet Bachmann schriftlich: "Die Menschen sehnen sich nach Normalität." Das bedeute: bezahlbare Energiepreise, sichere Grenzen, eine bessere Infrastruktur im ländlichen Raum.
Anders als auf ihrer teils schrillen Facebook-Seite schlägt Bachmann in ihrer E-Mail an ZDFheute einen sachlichen, nahbaren Ton an.
"Diktatur-Erfahrungen sind nur eine Erklärung", so Christian Bollert, Gründer der Initiative "Wir sind der Osten" zum Wahlverhalten im Osten. Die Mehrheit sei demokratisch.
Heute sei ihre Heimatregion "wirtschaftlich und touristisch schwach", schreibt Bachmann, die Infrastruktur "schlechter als früher". Als Auftrag der Wähler nehme sie mit: "Wir müssen eine gute Infrastruktur schaffen, die für junge Familien und die Ansiedlung von Firmen attraktiv ist."
SPD-Politiker: AfD hat unsere Aufgabe übernommen
Dass bei der AfD keine wirklichen Lösungsansätze erkennbar seien, sei für viele Bürger zweitrangig. Entscheidend sei die starke Präsenz der AfD.
"Viele Leute auf den Dörfern haben das Gefühl 'Zu uns kommt niemand von der Politik, aber die AfD kommt, ist für uns da'", sagt Geißler. Und das Gefühl trüge mitunter gar nicht so sehr.
"Kluft zwischen Wählern und Partei"
So denke manch sächsischer Parteigenosse, die Leute draußen auf dem Land seien der SPD nicht wohlgesonnen, den Besuch da könne man sich gleich sparen, erzählt Geißler. Das führe zwangsläufig zu einer Kluft zwischen Wählern und Partei.
ZDFzoom-Doku: In der AfD rumort es.
Sein Ansatz sei ein anderer gewesen: "Ich bin im Bundestagswahlkampf bewusst in die Dörfer gefahren, habe auch mit bekennenden AfD-Anhängern gesprochen, um zu erfahren, was die Leute beschäftigt."
Wut in "konstruktive Kraft" wandeln
Geißlers Erkenntnis: "Da müssen wir viel mehr Präsenz zeigen, den Menschen Angebote machen, wie sie mitgestalten können."
Sein Eindruck sei, dass sich "sehr viele Leute" einbringen wollten: "Sie haben Ideen und wollen ihr Leben und ihren Landstrich nicht abschreiben, sondern zum Besseren gestalten. Sie wissen aber nicht richtig, wie das funktioniert, weil es nie gelernt oder gefordert wurde." Geißler hofft, dass sich Wut in "konstruktive Kraft" wandeln lässt.
Auf mehr konstruktives Miteinander hofft auch Lea Fränzle, Kreisrätin und angehende Umweltingenieurin. Als Direktkandidatin der Grünen habe sie während des Bundestagswahlkampfes im Wahlkreis Mittelsachsen häufig das Gegenteil erlebt, berichtet die 24-Jährige in einem Freiberger Café:
Einer ihrer Wahlhelfer sei beim Verteilen von Infoblättern sogar "von einem Nazi massiv bedrängt, bedroht und über eine Stunde lang festgehalten" worden. Fränzle macht dafür einen in Teilen verrohten politischen Diskurs mitverantwortlich. Sie sagt: "Der Einsatz für Umweltschutz und eine lebenswerte Zukunft für uns alle ist hier kein einfacher."