Bundeskanzler Scholz trifft die Staats- und Regierungschefs von Estland, Lettland und Litauen. Ihn dürften unangenehme Fragen zu Deutschlands Ukraine-Politik erwarten.
Sie erinnert tatsächlich an eine sehr kurze Zündschnur, wenn man sie auf der Landkarte sieht - zumindest wenn man weiß, wie nervös sie auch in der Wirklichkeit die Kenner macht: die "Suwalki-Lücke". Kein anderer Landstrich in Europa bereitet den Militärstrategen der Nato so große Sorgen, wie dieser schmale Streifen zwischen der russischen Enklave Kaliningrad im Nordwesten und Russlands Verbündetem Belarus im Südosten. Er läuft entlang der Grenze zwischen Polen und Litauen und markiert den Ort, an dem die Nato am verwundbarsten scheint.
Wenn es wollte, könnte Russland die baltischen Staaten hier innerhalb von Stunden von seinen Verbündeten abschneiden. Und dass es nicht will, darauf mag sich hier oben, an der nordöstlichen Flanke von Nato und EU, schon seit der Annexion der Krim, und erst Recht seit dem Angriff auf die Ukraine niemand mehr verlassen.
Von Deutschland wird hier mehr erwartet
"Wenn die Ukraine fällt, steht Putin morgen vor unserer Tür", mahnte Litauens Präsident Gitanas Nauséda im Februar, bei einem Besuch in Berlin. Als im März Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Staatsbesuch kommt, ließ Nauséda wissen, dass sein Land bereit sei, noch mehr deutsche Soldaten aufzunehmen. Die Botschaft ist klar: Von Berlin erwarten sie in Vilnius mehr, als die Bundesregierung bisher liefert.
Dabei galt Litauen in den vergangenen Jahren als Beispiel dafür, dass sich in Deutschland etwas tut, wenn es um die Übernahme internationaler militärischer Verantwortung geht. Seit 2017 führt die Bundeswehr im litauischen Rukla eine der vier "Battlegroups" der Nato-"Enhanced Forward Presence" (eFP) - einer Abschreckungsinitiative, ins Leben gerufen nach der russischen Besetzung der Krim. Erst kürzlich stockte das Verteidigungsministerium, unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs, das deutsche Kontingent auf mehr als 900 Soldatinnen und Soldaten auf.
Baltische Staaten tun sich bei Scholz-Besuch zusammen
Den verstärkten Einsatz für die gemeinsame Verteidigung werden die Gastgeber heute sicherlich loben, wenn Olaf Scholz in Litauen zu Besuch ist. Denn immerhin bekennt Deutschland hier Farbe. Und trotzdem dürfte es für Olaf Scholz bei diesem Besuch nicht nur gemütlich zugehen.
Das Baltikum sei "besorgt, dass die Deutschen nicht das machen, was sie tun sollten", so Lettlands Verteidigungsminister Artis Pabriks. Nicht zuletzt, weil ihre Sicherheit vom Kriegsergebnis abhänge.
Wie schon bei früheren Treffen tun sich die baltischen Staaten zusammen. Neben einem Treffen mit Litauens Präsidenten steht auch ein gemeinsames Mittagessen mit den Regierungschefinnen von Estland, Lettland und Litauen auf der Tagesordnung.
Insgesamt wenig Verständnis für deutsche Zurückhaltung
Und so sieht sich der Bundeskanzler heute gleich drei Ländern gegenüber, die von seiner Politik des Abwägens derzeit reichlich wenig halten. Wie wenige andere, mahnten die Balten schon lange vor der Invasionsgefahr aus Russland, forderten die Einstellung von Nord Stream 2 und die Aufrüstung der Ukraine, um Putin vom Einmarsch abzuhalten.
Dass Scholz auch nach Ausbruch des Krieges nicht alle Register zieht, um der Ukraine im Verteidigungskampf beizustehen, stößt bei den Staaten, die sich 2004 aus Angst vor Russland der Nato angeschlossen haben, auf wenig Verständnis.
Mitte Februar kamen zusätzliche Bundeswehrsoldaten nach Litauen zur Stärkung der NATO-Ostflanke – wegen der Bedrohung der Ukraine durch Russland. Jetzt wird der Ernstfall geprobt.
Fragen nach deutschen Kampfpanzern
Und so könnte irgendwo zwischen Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch erneut die für Scholz wenig bekömmliche Frage aufkommen, warum er die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine weiterhin ablehnt. Schließlich ist ihm, laut Medienberichten, erst gestern bei diesem Thema ein Verbündeter verloren gegangen: Spaniens Premierminister Sánchez, der bisher auch durch Zurückhaltung bei Waffenlieferungen auffiel, und den Scholz gerne als politischen Freund bezeichnet, gibt Kritik nach und plant anscheinend nun die Lieferung von Kampfpanzern deutscher Bauart an die Ukraine.
Wie gut Scholz das verdaut und ob er sich davon zu einem Sinneswandel bewegen lässt, erfahren die Balten vielleicht schon am Mittagstisch und die Öffentlichkeit in der Pressekonferenz danach.
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