Die Fotos der internationalen Besuche bei dem ukrainischen Präsidenten gehen um die Welt. Aber sind sie mehr als Symbolpolitik? Ein Gespräch über die Macht von Bildern.
ZDFheute: Herr Hillje, was können Bilder bewirken?
Johannes Hillje: Sie können massiv die politische Meinungsbildung beeinflussen. Die Bilder vom Massaker in Butscha wurden untrennbar mit dem Begriff von Kriegsverbrechen verbunden. Sie wurden zum Symbol für russische Kriegsverbrechen. Auch wenn eine solche Einstufung der Taten letztlich eine rechtliche Frage ist, war das politische Urteil durch diese Bilder gefällt.
ZDFheute: Welche Folgen hatte das?
Hillje: Zum einen ist der Druck auf Regierungen gestiegen, die Ukraine stärker zu unterstützen - insbesondere der Druck durch die eigene Bevölkerung. Die Bilder hatten eine Schockwirkung, die Solidarität gegenüber der Ukraine und Abscheu gegenüber dem russischen Regime zugespitzt haben.
Zum anderen sind Ermittlungen in anderen Ländern in Gang gesetzt worden bezüglich der mutmaßlichen Kriegsverbrechen, die Russland dort begangen hat.
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ZDFheute: Können Worte die gleiche Wirkung haben wie ein einzelnes Bild?
Hillje: Im Gegensatz zu Worten liegt die Wirkmacht von Bildern in ihrer universellen Sprache begründet. Man benötigt keine Fachkenntnisse, muss keine Fremdwörter und auch keine Fremdsprachen kennen, um die Botschaft eines Bildes zu verstehen. Diese Universalität spielt in einer globalen Öffentlichkeit eine wichtige Rolle.
Zudem können Bilder effektiv das emotionale Denken in unserem Gehirn auslösen. Dabei sind deutlich mehr Bereiche unseres Gehirns aktiv als beim rationalen Denken. Wir prägen uns emotionale und starke Bilder daher viel besser ein als Fakten.
ZDFheute: Können auch Bilder von Politiker*innen, die den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew besuchen, etwas bewirken?
Hillje: Die Bilder entfalten mehrfache Wirkung. Es sind wichtige Symbole der Solidarität für viele Ukrainerinnen und Ukrainer. Gleichzeitig führen sie zu Aufmerksamkeit für den Krieg im Herkunftsland der Politikerin oder des Politikers.
Zudem entstehen bei solchen Besuchen häufig weitere Bilder in den Kriegsgebieten, die den Fokus auf bestimmte Kriegsgräuel lenken können.
Im Juni ist der Kanzler nach Kiew gereist - zusammen mit drei anderen europäischen Staatschefs. Ihr Ziel damals: ein Zeichen europäischer Solidarität senden -inmitten des russischen Angriffskrieges.
ZDFheute: Ist das dann nur Symbolpolitik?
Hillje: Nicht unbedingt. Auch Symbolik kann die Politik tatsächlich beeinflussen, denn Bilder verfügen über eine eigene politische Funktion. Sie senden beispielsweise nach Russland und in die Welt die Botschaft, dass man auf Seiten der Ukraine steht.
Außerdem macht es für jeden politisch Verantwortlichen einen qualitativen Unterschied, ein Kriegsgebiet mit eigenen Augen zu sehen. Die Gespräche mit Betroffenen, der Anblick der Zerstörung, das Miterleben eines Luftalarms – all das kann politisches Handeln prägen.
ZDFheute: Haben die Bilder der Politiker und Politikerinnen in der Ukraine denn zu konkreten politischen Handlungen geführt?
Hillje: Ob spätere Taten mit einem Besuch zusammenhängen, ist natürlich nicht immer klar zu beurteilen. Klar ist aber, dass Besuche als Bühne für die Verkündigung von politischem Handeln dienen: Olaf Scholz und seine europäischen Amtskollegen haben in Kiew ihre offizielle Unterstützung für Ukraines EU-Beitrittskandidatur bekundet und weitere Waffenlieferungen angedeutet.
Auch wenn sich Scholz vorher abfällig über Fototermine geäußert hat, war dieser Besuch auch eine Inszenierung seiner Unterstützung für die Ukraine. Umsetzung und Darstellung von Politik gehören stets zusammen.
ZDFheute: Kann es auch schaden, wenn sich politische Vertreter*innen mit Selenskyj fotografieren lassen?
Hillje: Manche Politikerinnen und Politiker laufen Gefahr, sich dem Vorwurf der Selbstinszenierung auszusetzen. Vor Ort kommt es auf das richtige Verhältnis von Symbolik, Gesprächen und politischen Taten an.
Die Foto-Produktion sollte wohldosiert sein und in erster Linie dem Zweck dienen, dass die Aufmerksamkeit für das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer hoch bleibt. Denn jenseits der russischen Angriffe, fürchtet Selenskyj mittlerweile nichts mehr als unsere schwindende Aufmerksamkeit für den Krieg.
Das Interview führte Nadine Braun.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.