Raketenabwehr: Ist Söders Anti-Putin-Schutzschirm sinnvoll?

    Faktencheck

    Forderung nach Raketenabwehr:Ist Söders Anti-Putin-Schutzschirm sinnvoll?

    von J. Schneider, N. Metzger, J. Sonnewald
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    Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat einen "kompletten Schutzschirm über Deutschland" gegen Raketenangriffe gefordert. Experten zweifeln jedoch an Sinn und Umsetzbarkeit.

    Waffen für die Ukraine: Luftverteidigungssystems Iris-T SLM
    Schutzschirm für ganz Deutschland möglich? Das Flugabwehrsystem Iris-T SLM. (Archivbild)
    Quelle: dpa

    CSU-Chef Markus Söder hat die Einrichtung eines Flugabwehrsystems für deutsche Großstädte gefordert. "Bild am Sonntag" sagte Söder:

    Wir müssen Raketen- und Luftabwehrschutzsysteme für deutsche Städte installieren. Damit hätten wir einen kompletten Schutzschirm über Deutschland. Es reicht nicht, nur unsere Partner zu schützen, sondern wir müssen das auch für das eigene Land tun.

    Markus Söder, CSU-Vorsitzender

    Das, was die Ukraine nun bekommt, um sich vor russischem Raketenhagel zu schützen, brauche auch Deutschland, so der Tenor. In einem Twitter-Post zum Interview schob Söder nach, es "müsse endlich konsequent gehandelt werden."

    Was bedeutet Söders Forderung konkret?

    Was die seit Monaten anhaltende Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine lehrt: Rüstungsprojekte sind nie einfach. Und Luftverteidigungssysteme vom Typ Iris-T SLM oder Patriot, wie sie Söder vorschweben, gehören in die Königsklasse der komplexesten Rüstungsgüter.
    Bei Frank Sauer, Experte für Sicherheitspolitik und Militärtechnik von der Universität der Bundeswehr München, stößt Söders weitreichende Forderung darum auf wenig Verständnis:

    Das ist so krude, da weiß man gar nicht, wo man anfangen soll.

    Dr. Frank Sauer, Universität der Bundeswehr München

    Söder mache es sich zu einfach, so Sauer gegenüber ZDFheute: "Eine Luftverteidigung, wie sie ihm vorzuschweben scheint, funktioniert natürlich nicht, indem man ein paar Abwehrsysteme rund um deutsche Städte parkt." Es brauche Systeme in mehreren Ländern, etwa um Raketen in verschiedenen Phasen ihrer Flugbahn, Lenkflugkörper und auch Drohnen abfangen zu können. "Aber auch das teuerste und ausgefeilteste System bietet natürlich keine absolute Sicherheit", betont Sauer.
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    Über welches Abwehrsystem redet Söder?

    Angesprochen wurde Söder auf die Lieferung des Flugabwehrsystem Iris-T SLM vom deutschen Hersteller Diehl. Deutschland hatte vor wenigen Tagen ein erstes dieser hochmodernen Systeme an die Ukraine geliefert. Drei weitere sollen im kommenden Jahr folgen.
    Iris-T SLM kann zur Abwehr von anfliegenden Raketen in einer Höhe bis zu 20 Kilometern und in einer Entfernung von bis 40 Kilometern eingesetzt werden. Die praktische Reichweite kann aber von vielen Faktoren abhängen, da verschiedene Bestandteile gemeinsam agieren: Raketenbatterie, Radar und Feuerleitstelle. Je nach angepeiltem Ziel kann die Reichweite zusätzlich schrumpfen und die Zielgenauigkeit abnehmen.
    Würde man also tatsächlich einen Schutzschirm über ganz Deutschland spannen wollen, könnte das für jede Großstadt schnell mehrere solcher Systeme erfordern. Anja Dahlmann, Expertin für Rüstungskontrolle am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg betont:

    Der Begriff Schutzschirm ist schon schwierig, da man einen Luftraum mit diesen Systemen nur punktuell schützen kann.

    Anja Dahlmann, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik

    Wogegen hilft ein Schutzschirm mit Iris-T SLM?

    Dahlmann weist außerdem darauf hin, dass Iris-T SLM nicht geeignet sei zur Abwehr von Mittel- oder Langstreckenraketen. Es könnte lediglich Schutz bieten, wenn ein Angreifer aus der Nähe attackiert.

    Für den Einsatz von Kurzstreckenraketen müssten russische Truppen aber deutlich näher an Deutschland sein – vergleichbar mit den Angriffen in der Ukraine. Das halte ich auch weiterhin für ein äußerst unwahrscheinliches Szenario.

    Anja Dahlmann, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik

    Gegen Wladimir Putins gefürchtete, atomar bestückte Interkontinentalraketen etwa könnte Iris-T SLM Dahlmann zufolge also kaum Schutz bieten.

    Tatsächlich will Deutschland zusammen mit 14 verbündeten Ländern eine europäische Luftverteidigung aufbauen. Insgesamt 15 Staaten unterzeichneten vergangene Woche am Rande des Nato-Rats in Brüssel eine Absichtserklärung für einen "European Sky Shield". In dem von Deutschland angeregten Abwehrschirm sollen unterschiedliche Systeme eingebunden werden, die zur Abwehr von Mittel- wie Langstreckenraketen oder auch bewaffneten Drohnen geeignet sind. Hierbei handelt es sich jedoch vorerst um eine Absichtserklärung. Das Projekt soll vor allem ausgleichen, dass die Nato als Militärbündnis insgesamt in den vergangenen Jahrzehnten relativ wenig in diesen Bereich investiert hat. Einen festen Zeitplan hat das Vorhaben bislang nicht.

    Wie teuer wäre so ein Schutzschirm?

    Auch bei der praktischen Machbarkeit dominieren die Vorbehalte. Die Bundeswehr verfügt aktuell über gar keine Systeme Iris-T SLM. Sie sollten in kleiner Stückzahl frühestens 2025 kommen, doch diesen Zeitplan hat nun der Ukraine-Krieg verzögert.
    Das Iris-T SLM kostet 140 Millionen Euro pro Einheit. Allein eine Rakete kostet nochmal 250.000 Euro. Zwar würden die von Söder geforderten Stückzahlen den Preis sicherlich drücken, es würde sich aber in jedem Fall um ein viele Milliarden Euro teures Rüstungsprojekt handeln. Alternativen wie das Patriot-System des US-Rüstungskonzerns Raytheon wären nochmal erheblich teurer.
    Das Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro ist bereits weitgehend für andere dringend benötigte Beschaffungsvorhaben verplant. Das Geld müsste also aus einem anderen Topf kommen. Spricht man mit Soldaten, so nennen sie fehlende Munition oder zu wenig Fahrzeuge zum effektien Training als drängendste Baustellen - ein Milliardenprojekt Raketen-Schutzschirm, womöglich zu Lasten anderer Beschaffungen, steht auf der Prioritätenliste alles andere als oben.
    Bislang produziert der Hersteller Diehl Defence laut dem Militär-Fachblog "Augen geradeaus" zwei Feuereinheiten Iris-T SLM pro Jahr, drei bis vier seien theoretisch möglich. Bis alle nötigen Einheiten für einen Schutzschirm über ganz Deutschland ausgeliefert wären, würden viele Jahre vergehen. Der Hersteller Diehl Defence selbst wollte sich gegenüber ZDFheute nicht zur Machbarkeit äußern.

    Fazit: Söders Vorschlag überzeugt kaum

    Einen flächendeckenden Raketen-Schutzschirm über Deutschland zu spannen, ist teuer, würde Jahre dauern, ist laut Experten mit zahlreichen Hürden verbunden. Produziert werden die Iris-T SLM von Diehl Defence am Bodensee; Sitz der Diehl-Muttergesellschaft ist hingegen Nürnberg - Söders Heimatstadt und Wahlkreis. Vor Ort könnte sich Söder Einschätzungen zur Machbarkeit oder Nicht-Machbarkeit einholen.
    Söder selbst wollte seine Forderung gegenüber ZDFheute nicht weiter ausführen. "Söder gibt kein Interview dazu - es ist erstmal alles gesagt", teilte sein Sprecher mit.
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