Forschende an Universitäten sind irritiert, entsetzt. Ihr Vorwurf: Ministerin Stark-Watzinger hält Förderbescheide zurück und stoppt Forschungsprojekte. In Berlin wiegelt man ab.
Die Forscherinnen und Forscher wissen sich offensichtlich nicht mehr anders zu helfen: Sie schreiben Offene Briefe an Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) nach Berlin. Denn nach und nach trudelten dort in den vergangenen Wochen Ablehnungen aus Stark-Watzingers Haus ein: Der Förderbescheid liegt auf Eis oder verzögert sich, abhängig vom Haushalt 2023, der im November erst beschlossen werden soll.
Soziologie-Gesellschaft: "Völlige Unklarheit"
Wie groß das gesamte Ausmaß ist, ist noch nicht deutlich. Mit 65 Forschenden aus den Bio-, Geo-, Ingenieur-, Geistes- und Sozialwissenschaften hat sich die Münchener Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky vernetzt. Sie ist auch Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Offensichtlich, schreibt sie diese Woche in ihrem Brief an Stark-Watzinger, sei das erst im März ausgeschriebene Förderprojekt "Gesellschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie – Forschung für Integration, Teilhabe und Erneuerung" gestrichen worden.
Denn alle am Projekt Beteiligten berichten von Zuwendungsbescheiden, die nicht kommen. Oder immer wieder verschoben werden. Keiner weiß, ob das Ministerium das Projekt noch fördert oder nicht. Dabei sollten einige Projekte am 1. Juli beginnen.
Villa Braslavsky schreibt: "Es herrscht völlige Unklarheit", wie das Ministerium mit der Förderlinie denn nun umgeht. Zumal es um das relevante Thema Corona geht, ist das Unverständnis groß:
Sorge: Nachwuchs wird aus Forschung gedrängt
Und: Die momentane Unklarheit sei "für den Wissenschaftsstandort Deutschland verheerend": Vor allem junge Forschende aus dem akademischen Mittelbau, deren Existenzgrundlage solche Projekte sind, würden aus Forschung und Lehre herausgetrieben.
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Das treffe ausgerechnet die, die "hervorragend ausgebildet, hoch motiviert und überaus engagiert sind", sagt Villa Braslavsky:
Stoppt Schuldenbremse Klima-Projekt?
Neben dem aktuellen Thema Corona ist auch die Forschung zum Klima betroffen. Bei dem Projekt Biotip an der Freien Universität Berlin sind etwa 130 Forschende in 30 Forschungsgruppen an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie internationalen Partnern betroffen.
Sie arbeiten seit 2019 und zum Teils seit 2011 zu Grenzen und Verlusten der Artenvielfalt, zu "Kippunkte, Dynamik und Wechselwirkungen von sozialen und ökologischen Systemen". Doch das ist jetzt vermutlich selbst gekippt.
Begründet wurde das Auslaufen vom Ministerium mit "aktuell geringeren zur Verfügung stehende Haushaltsmitteln und neuen Schwerpunktsetzungen hin zu Forschungsaktivitäten, die einen schnelleren Impact erzeugen". So zitieren es die 70 Unterzeichnenden des Offenen Briefes an Stark-Watzinger von Ende Juni, die am Biotip-Projekt beteiligt sind:
Ihr Vorwurf: Ihre Antragsskizzen sei offenbar erst gar nicht geprüft worden. Und: die Begründung der Ablehnung sei "in keinster Weise nachvollziehbar". Niemand sage, wohin die Haushaltsmittel stattdessen fließen sollen und warum man Zweifel am "schnellen Impact" habe.
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Ausgerechnet die letzte Phase, wo alle Forschungsergebnisse aus allen Projekten zusammengeführt werden sollten, falle nun weg, sagte Politikwissenschaftlerin Marianne Braig in einer Veröffentlichung der FU Berlin.
Ministerium: Es gibt keinen Förderstopp
Im Berliner Bildungsministerium weist man alle Vorwürfe zurück: "Es gibt keinen Förderstopp", sagte eine Sprecherin in der Bundespressekonferenz. "Es gibt auch keine neue Schwerpunktsetzung der Hausleitung." Das Haushaltsjahr 2023 sei von "besonderen Herausforderungen" geprägt, auch solle die Schuldenbremse wieder eingehalten werden. Aber:
Es gehe nur um das Auslaufen von Anschlussprojekte, die nicht mehr oder in kleinerem Umfang gefördert werden können.
Wie viel insgesamt eingespart werden soll, wie viele Forschungsprojekte betroffen sind - all diese Fragen ließ das Ministerium unbeantwortet. Aber es zeigt Verständnis: Man könne verstehen, wenn Forscherinnen und Forscher "enttäuscht" sind. Leider sei dies den genannten Rahmenbedingungen geschuldet.
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