Für 100 Tage schaut die Kunstwelt nach Kassel: Die documenta fifteen hat begonnen. Bundespräsident Steinmeier hat sie mit deutlicher Kritik an den Veranstaltern eröffnet.
Bundespräsident Steinmeier spricht auf der Documenta - die Eröffnungsrede in ganzer Länge
"Ich will offen sein: Ich war mir in den vergangenen Wochen nicht sicher, ob ich heute hier sein würde", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede der documenta fifteen in Kassel mit Blick auf die Antisemitismus-Debatte um die diesjährige Schau.
Die alle fünf Jahre stattfindende documenta wird in diesem Jahr erstmals von einem Kuratorenkollektiv aus dem Globalen Süden verantwortet. Dem indonesischen Kollektiv Ruangrupa war vorgeworfen worden, auch Organisationen einzubinden, die den kulturellen Boykott Israels unterstützten oder antisemitisch seien.
Die "documenta fifteen" in Kassel ist ab sofort für das Publikum geöffnet. Bis Ende September präsentieren rund 1.500 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt ihre Werke.
Steinmeier: Kunst nicht streitfrei zu haben
Selten habe eine documenta im Vorfeld eine so heftige und kritische Debatte hervorgerufen wie die diesjährige, sagte Steinmeier. Eine demokratische Gesellschaft dürfe Künstler nicht bevormunden oder instrumentalisieren.
Die Kunstfreiheit sei ein wichtiger Pfeiler demokratischer Gesellschaften, habe aber auch ihre Grenzen. "Wir alle wissen: Kunst ist nicht streitfrei zu haben", betonte Steinmeier.
Auch sei Kritik an israelischer Politik erlaubt.
Er habe im Vorfeld der Schau "manchen gedankenlosen, leichtfertigen Umgang mit dem Staat Israel" beobachtet, sagte er weiter. Die Anerkennung Israels sei in Deutschland aber Grundlage und Voraussetzung der Debatte.
Steinmeier eröffnete die documenta fifteen bei strahlendem Sonnenschein und bei schon am Morgen sommerlichen Temperaturen. Zu seiner Ankunft hatten sich Hunderte Menschen vor dem Fridericianum in der Innenstadt von Kassel versammelt.
Hessens Regierungschef: Antisemitismus wird nicht geduldet
Auch Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) betonte, er nehme den Antisemitismus-Vorwurf sehr ernst. "Deutsche Politiker können dazu nicht einfach so sang- und klanglos nichts sagen, wenn im Land der Täter der Shoah der Vorwurf des Antisemitismus erhoben wird", betonte er. Das müsse alarmieren.
"Wer ein freiheitliches und ein lebenswertes Land will, der kann Antisemitismus nicht dulden." Das gelte auch für "die heimlichen Spielarten der Israel-Kritik als Ersatz-Antisemitismus".
Ausstellung in der ganzen Stadt verteilt
Zur 15. Ausgabe der documenta präsentieren 14 Kollektive, Organisationen und Institutionen sowie 54 Künstlerinnen und Künstler ihre Werke bis zum 25. September. Die documenta ist neben der Biennale in Venedig die weltweit wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst.
Die documenta gibt es seit 1955 in Kassel. In diesem Jahr ist die 100-Tage-Ausstellung über mehr als 30 Standorte in den Kasseler Stadtteilen Mitte, Nordstadt und Bettenhausen sowie an und auf der Fulda mit angrenzenden Arealen wie Karlsaue oder Hafen verteilt.
Die Schau wird von einem Künstlerkollektiv aus Indonesien kuratiert , der "Ruangrupa".
Neben den klassischen Spielorten wie dem Museum Fridericianum und der documenta-Halle sind darunter ein Bootsverleih, ein ehemaliges Firmengelände sowie ein altes Hallenbad. Insgesamt wird laut Generaldirektorin Sabine Schormann eine Fläche von 30.000 Quadratmetern bespielt.
Kunst als kollektiver Prozess
Die diesjährige documenta repräsentiert den Globalen Süden. Im Mittelpunkt steht nicht das Werk, sondern Kunst als kollektiver Prozess.
Das Konzept von Ruangrupa fußt auf der indonesischen Lumbung-Architektur. "Lumbung" ist in dem Inselstaat das Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird. Diese Tradition des Teilens will das Team auf die Weltkunstausstellung in Kassel übertragen.
- documenta fifteen - das Prinzip Reisscheune
Im Juni wird Kassel wieder zum Mekka für Kunstfans aus der ganzen Welt - schon jetzt läuft die Vorbereitung für die documenta fifteen auf Hochtouren. Die Pandemie erschwert vieles.