Was sind die Quellen der Querdenken-Bewegung? Was treibt ihre Mitglieder an? Und welche Bedeutung hat das alternative und anthroposophische Milieu? Eine Studie liefert Antworten.
Baden-Württemberg war früh Schwerpunkt der Corona-Proteste. Die Initiative "Querdenken 0711" organisierte Kundgebungen mit bis zu 15.000 Teilnehmenden. Zudem wurde der Stuttgarter Unternehmer Michael Ballweg schnell zum Gesicht und Hauptorganisator der deutschlandweiten Querdenken-Demonstrationen.
Oliver Nachtwey und Nadine Frei, Soziologen an der Universität Basel, führten Interviews mit Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Politik, befragten Expertinnen und Experten, werteten Umfragen in Telegram-Gruppen aus. Die Ergebnisse ihrer Studie "Quellen des Querdenkertums. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg" zusammengefasst:
Das Selbstverständnis
Was die Mitglieder der Bewegung eint, ist nicht etwa eine gemeinsame Ideologie, sondern das Selbstverständnis, eingeweiht oder gar erwählt zu sein. Zentrales Motiv ist folglich die eigene Recherche, mittels derer man über höheres Wissen und die Wahrheit zu verfügen glaubt.
[Die gesamte Studie kann hier heruntergeladen werden]
Entfremdung von der Demokratie
Befragungen in den Telegram-Gruppen der Querdenkenden dokumentieren ein prinzipielles Misstrauen gegenüber allen Kerninstutionen der liberalen Demokratie: Parlamente, Parteien, Wissenschaft und Medien - kurz gesagt: dem Mainstream.
Kritik als Eigenwert
Die Kritik der Querdenken-Mitglieder zielt nicht auf einzelne Maßnahmen ab, vielmehr soll der fundamentale Widerspruch am Großen und Ganzen wahrgenommen werden. Laut Nachtwey speist sich die Argumentation der Querdenkenden aus verschwörungstheoretischen und esoterischen Überzeugungen, ein Phänomen, das "conspirituality" genannt wird.
Protestkultur
Nicht erst seit Stuttgart21 - Baden-Württemberg weist eine lange Protestgeschichte auf. Obwohl es kaum personelle Zusammenhänge gibt, macht sich die Querdenken-Bewegung die Protestformen des bürgerlichen Milieus zu eigen, knüpft konkret daran an.
- Radikalisierung der Corona-Leugner droht
Der Verfassungsschutz warnt vor einer zunehmenden Radikalisierung der Corona-Leugner. Im ganzen Land seien Beleidigungen, Angriffe und ultraaggressives Verhalten zu beobachten.
Alternative und Anthroposophen
Die Untersuchungen weisen stattdessen nach: zentrale Quellen der Bewegung sind das alternative und anthroposophische Milieu. Ein libertärer Freiheitsbegriff, Ganzheitlichkeit, Individualität, Selbstbestimmung und Naturverbundenheit. Gesundheitspolitische Fragen wie die Impfung mobilisieren sie daher gleichermaßen.
Waren es früher linke Werte wie Solidarität und Gleichheit, die das alternative Milieu prägten, sind es heute vor allem Formen der Selbstverwirklichung und der Körperpolitik. Diese Transformation des alternativen Milieus, erklären die Soziologen, ermögliche eine Anziehungskraft weit über die eigenen Milieugrenzen hinaus.
Enttäuschte Grüne
Politische Heimat für alternativ und anthroposophisch eingestellte Menschen waren lange Zeit die Grünen. Mit der Trennung der Partei von ihrer alternativen Traditionslinie und dem Anspruch, Volks- und Regierungspartei zu sein, begann für viele ein Prozess der Entfremdung. Einige wurden zu Nichtwählenden, andere wählen seither Parteien wie die AfD oder "die Basis".
Unterschiede zu Ostdeutschland
Während die ostdeutschen Corona-Proteste seit Anbeginn von extremen Rechten dominiert werden, zeichnet sich die Bewegung in Baden-Württemberg durch ihre esoterische und anthroposophische Prägung aus. Der Anteil von ehemaligen Grünen- oder Linkenwählenden ist doppelt so hoch wie in Ostdeutschland. Das Fazit der Studie: Aus unterschiedlichen Quellen entwickelte sich eine ähnliche Abneigung gegenüber der Corona-Politik.
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