Die Vorfälle von Stuttgart verstärken den Eindruck von zunehmender Gewalt gegen die Polizei. BKA-Zahlen bestätigen den Anstieg - sind aber nicht unumstritten.
Die Vorfälle in Stuttgart am vergangenen Wochenende schockierten Deutschland. Hunderte - überwiegend männliche und alkoholisierte - Randalierer griffen Polizeibeamte an und attackierten sie mit Flaschen und Steinen. Mindestens 19 Polizisten wurden laut Behörden verletzt.
Für viele fügt sich das in ein Gesamtbild zunehmender Gewalt gegen Polizeibeamte und -beamtinnen in Deutschland, etwa für Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel.
BKA: Gewalttaten gegen Polizei stiegen um 1,3 Prozent
Doch wie stark ist die Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten in den vergangenen Jahren tatsächlich gestiegen?
Eine Antwort auf die Frage liefert das Bundeslagebild "Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte" des Bundeskriminalamts (BKA). Anfang Juni erschien der aktuellste Bericht mit einer Auswertung der Fälle von 2019.
"maybrit illner" mit dem Thema "Feindbild Polizei - Hass, Gewalt und Machtmissbrauch?"
Wer darin die Daten zu den erfassten Gewalttaten sucht, wird erst auf Seite 53 des Dokuments fündig. Dort heißt es:
BKA-Zahlen nur schwer vergleichbar mit Vorjahren
Die Steigerung um 1,3 Prozent erscheint zunächst nicht groß. Im Vergleich zum Berichtsjahr 2011 habe sich die Anzahl der Gewalttaten gegen Beamte hingegen sogar um 26,1 Prozent erhöht, heißt es weiter.
Gleichzeitig verweist das BKA aber darauf, dass die Zahlen von 2018 und 2019 nur "eingeschränkt" vergleichbar sind mit den Vorjahren. Grund dafür ist das "52. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften" vom Mai 2017, das den neuen Straftatbestand "tätlicher Angriff" einführte und ihn strafrechtlich vom "Widerstand" losgelöst.
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Irreführende Pressemitteilung des BKA
Interessant dabei: In der Pressemitteilung des BKA zum Bundeslagebild 2019 wird die eigentliche Gewaltzunahme um 1,3 Prozent nicht erwähnt. Dafür gibt es eine Fokussierung auf "Widerstand gegen und tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen". Hier sind die dokumentierten Fälle um 8,6 Prozent gestiegen, von 33.260 Fällen im Jahr 2018 auf 36.126 Fälle im Jahr 2019. Verschiedene Medien griffen daraufhin die Zahl 8,6 prominent auf.
In diesem speziellen Deliktsbericht werden aber nicht nur Polizisten zu den Opfern gezählt - sondern etwa auch Rettungskräfte. Blickt man in dem Bericht alleine auf die Zahl mit Polizeibeamten als Opfer, stiegen die Fälle des tätlichen Angriffs und Widerstands in den zwei Jahren von 30.686 auf 32.875 - eine Zunahme um 7,1 Prozent.
Widerstand und tätlicher Angriff sind nur zwei von elf Straftatbeständen, die das BKA - neben etwa Nötigung, Bedrohung oder Körperverletzung - als Gewalttaten gegen Beamte zählt, machen aber den Großteil der Fälle aus. Auf die ZDFheute-Anfrage, woher die Fokussierung auf diese beiden Straftatbestände kommt, antwortete das BKA:
Kritik an Glaubwürdigkeit der BKA-Zahlen
Doch wie glaubwürdig sind die Zahlen des BKA? Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt lautet: Die Fälle der Gewalttaten werden von der Seiten der Polizei erhoben - und das führe zu Befangenheit. So sieht es etwa Strafverteidiger und Hochschulprofessor Thomas Feltes:
Gleichzeitig kritisiert er, was die Polizei als "Widerstand" zählt, denn nach ihrer Auffassung sei praktisch jeder Widerstand gewaltsam:
Umstritten sei auch die Definition des "tätlichen Angriffs". "Das kann schon das Wegstoßen einer Polizistenhand sein, die mich wegschieben will, oder das sich wehren gegen eine Festnahme, die man als unberechtigt ansieht", erklärt Feltes.
BKA verteidigt neue Gesetzgebung
Das BKA hingegen betont, das dabei insbesondere Taten erfasst werden sollen, die mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt begangen werden:
Gleichzeitig lobt es die neugeschaffene Möglichkeit, tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte bei allgemeinen Diensthandlungen strafrechtlich zu verfolgen. Denn dies decke nun viele Situationen im polizeilichen Alltag ab, die früher nicht als eigener Tatbestand eingeordnet und bestraft werden konnten.
"Aus Sicht der Polizeibeamten als Opfer hat das Gesetz zu einem gewissen Umdenken geführt und mögliche eigene Ansprüche werden jetzt mit sehr viel mehr Nachdruck und anwaltlicher Unterstützung verfolgt", erklärt der Moerser Strafrechtsanwalt Bertil Jakobson.
Fazit: Die Gewalt gegen die Polizei ist gestiegen, aber ...
Laut offiziellen Zahlen des Bundeskriminalamts ist die Zahl der der Gewalttaten gegen Beamte von 2018 auf 2019 um 1,3 Prozent gestiegen - auch wenn das in der Pressemitteilung zum Bundesbild 2019 nicht hervorging. Das Problem ist nur: Ein Vergleich zu den Vorjahren ist durch die Schaffung des neuen Straftatbestands des tätlichen Angriffs nicht möglich. Wie sehr die Gewalt gegen die Polizei langfristig gestiegen ist, ist anhand dieser Daten also kaum zu ermitteln.
Nach der für Stuttgart beispiellosen Gewalt am Wochenende bemühen sich Politik und Polizei um Aufklärung. Wie konnte es so weit kommen, dass Hunderte marodierende Menschen durch die Innenstadt ziehen?