Entführte Bürgermeister, Aktivisten und Journalisten. Wie russische Truppen in den von ihnen besetzten Gebieten in der Ukraine die Zivilgesellschaft mit Gewalt unterdrücken.
Die Regionen Cherson und Saporischschja im Süden der Ukraine sind zu großen Teilen von russischen Truppen besetzt. In diesen Gebieten mehren sich die Berichte von verschleppten Bürgermeistern, Aktivisten und Journalisten.
Die russischen Besatzer versuchen mit aller Gewalt die Gebiete unter ihrer Kontrolle zu halten, indem sie kritische Stimmen einschüchtern oder gar beseitigen, Bürgermeister kidnappen, Demonstrationsteilnehmer beschießen und verhaften.
UN dokumentieren 45 Verschleppungen
Die UN-Beobachtermission für Menschenrechte in der Ukraine (HRMMU) hat seit Kriegsbeginn in der Ukraine 45 Fälle von willkürlichen Verhaftungen und Entführungen durch russische Einheiten dokumentiert.
In 21 Fällen sind Journalisten und Menschen, die gegen die russische Besatzung protestierten, betroffen. In 24 Fällen wurden Beamte und Angestellte lokaler Behörden, darunter drei Bürgermeister und ein Gemeindevorsteher, gekidnappt. 22 Personen sollen inzwischen wieder freigelassen worden sein.
- Russlands Krieg "Spitze eines Eisberges"
Amnesty International beklagt ein Versagen der internationalen Staatengemeinschaft im Einsatz für Menschenrechte. Was daraus folgt, führe Russland nun auf dramatische Weise vor.
Gefesselt und geschlagen
ZDFheute konnte mit einem betroffenen Journalisten aus der Stadt Nowa Kachowka in der Region Cherson sprechen. Der Reporter Oleh Baturin wurde am 12. März entführt.
"Ich bin zum Busbahnhof gegangen [...] Sie haben mich entdeckt, sind aus dem Auto gesprungen und sind mir nachgerannt. Sie fingen an zu schreien, warfen mich auf den Boden und verdrehten mir sehr schmerzhaft die Hände, legten mir Handschellen an. Sie zogen mir eine Kapuze über den Kopf und haben angefangen auf die Beine und auf die Hüften einzuschlagen. Dann stießen sie mich in ein Auto und brachten mich in die Stadt Nowa Kachowka, wo sie mich zu verhören begannen."
"Wir werden dich töten"
Dann wurde Baturin seinen Angaben zufolge nach Cherson gebracht und dort eine Woche lang mit anderen Entführten gefangen gehalten und weiter verhört. Das Hauptinteresse habe neben lokalen Journalisten und den Organisatoren von Protesten ehemaligem Militärpersonal gegolten, die im Donbass gegen die pro-russischen Separatisten gekämpft hatten:
"Sie fragten, wer die Organisatoren pro-ukrainischer Kundgebungen in unserer Region Cherson seien. Wer den Telegram-Kanal aus der Region Cherson führt. Wissen Sie, wer eine Waffe hat und wer mit Waffen umgehen kann?"
Es waren nicht nur Verhöre, es waren auch Einschüchterungen mit einem klaren Ziel, da ist sich Baturin sicher: "Der Hauptzweck solcher Gespräche und Drohungen ist es, Journalisten dazu zu bewegen dem russischen Militär zu dienen, ihre Interessen zu bedienen."
Ihm gegenüber drohten sie:
"Es waren angereiste Russen"
Wer ihn entführt hat, kann Baturin nicht klar sagen:
"Sie wollten sich nicht zu erkennen geben, sie hatten Angst, dass ich ihre Gesichter sehe. Sie hielten mich die ganze Zeit fest, hielten mich sehr nah am Boden mit dem Kopf nach unten. Ich hatte eine Kapuze über dem Kopf. Manchmal war die Kapuze mit Klebeband festgemacht, meine Hände hielten sie entweder vorne oder hinten, in Handschellen."
Aber dass es russische Einheiten waren, darin besteht für ihn kein Zweifel:
"Aus den Gesprächen habe ich rausgehört, dass sie Russen sind. Denn sie sagten manchmal so spezielle Sachen, sie fragten nach Dingen, die jeder bei uns in der Ukraine kennt oder jeder in der Region Cherson kennt. Das heißt es waren keine Ukrainer, sicher, es waren angereiste Russen. Manche von denen haben es nicht verheimlicht. Die meinten, gleich werden die Tschetschenen kommen, gleich werden die aus Donezk kommen."
- Unbewaffnet gegen die russischen Besatzer
Mehr als vier Wochen nach Beginn des Krieges in der Ukraine stellen sich dort in vielen Städten Menschen friedlich den Besatzern entgegen, zeigen ZDFheute-Recherchen.
Unterdrückung, Einschüchterung, Drohungen
Baturin berichtet in dem Gespräch mit ZDFheute auch von weiteren Entführungen in seiner Stadt. Als er gefangen gehalten wurde, erkannte er seinen Angaben zufolge unter den Mitgefangenen auch die Stimme eines befreundeten lokalen Aktivisten. Anders als bei Baturin fehlt von ihm seither jedoch jede Spur.
Auch unter Journalisten ist er mit seinen Erfahrungen nicht alleine. In der südukrainischen Stadt Melitopol wurde nach Angaben der Nationalen Union von Journalisten am 23. März der 75-jährige Vater von Svetlana Zalizetskaya festgenommen. Zalizetskaya, Chefredakteurin des Lokalmediums RIA Melitopol, hatte zuvor die Stadt verlassen. Die Besatzer drohten ihr, ihren Vater erst dann wieder freizulassen, wenn sie sich selbst den Besatzern ausliefere.
Hinweis: Dieser Beitrag enthält Szenen, wie Menschen erschossen werden. Diese Bilder können verstörend sein.
Journalisten festgenommen
Auch Mitarbeiter eines anderen Lokalmediums wurden zwischenzeitlich in Melitopol festgenommen und stellten daraufhin ihre journalistische Arbeit ein, berichtet Sergiy Tomilenko. Er ist der Präsident der Nationalen Union von Journalisten in der Ukraine und telefoniert täglich mit Journalisten in den besetzten Gebieten.
"Die Situation ist sehr gefährlich. Wir haben Belege für die Unterdrückung von Journalisten und Aktivisten in der Region Cherson, der Region Saporischna, praktisch überall dort, wo die russische Armee präsent ist." Die Journalisten-Vereinigung hat auch getötete Kollegen zu beklagen, andere wiederum gelten seit Tagen oder gar Wochen als vermisst.
Menschenrechtsorganisation dokumentiert Verschwinden
Die ukrainische Menschenrechtsorganisation ZMINA hat bislang 52 Fälle von Entführungen und Verhaftungen dokumentiert, geht aber von deutlich mehr tatsächlichen Fällen aus. Die Organisation versucht zu den Personen und ihren Angehörigen Kontakt aufzubauen. Manche von ihnen sind inzwischen wieder freigelassen worden, wie der Bürgermeister der Stadt Melitopol, Iwan Fedorow. In einem Facebook-Video nach seiner Freilassung gibt er sich weiter kämpferisch:
"Ich bin ganz fest überzeugt, dass wir ganz bald die ukrainische Fahne auf dem zentralen Platz von Melitopol hissen werden. Und diejenigen, die sie heruntergelassen haben, werden ganz sicher nicht in unserer wunderschönen Stadt bleiben. Es lebe die Ukraine!"
Hinweis: Dieser Beitrag enthält Szenen, wie Menschen erschossen werden. Es werden unter anderem Folter und Gewalt thematisiert. Diese Inhalte können verstörend sein.
Von Entführten fehlt jede Spur
Von anderen Verschleppten fehlt laut ZMINA bis heute jede Spur. So auch bei Serhiy Priyma, dem Leiter des Bezirksrats von Melitopol.
"Am 13. März um 7:30 Uhr kamen Vertreter der russischen Besatzungseinheiten zu seinem Haus, durchsuchten ihn, nahmen ihm seine elektronischen Geräte ab und brachten ihn in eine unbekannte Richtung. Der Ort des Aufenthalts ist unbekannt", so beschreibt Tetiana Pechonchyk, Vorsitzende von ZMINA, den Fall.
Auch von Jewheni Matwijow, dem Bürgermeister von Dniprorudne fehlt laut ZMINA seit dem 13. März jede Spur. Die Stadt liegt ebenfalls in der Region Saporischschja, nur wenige Tage zuvor waren russische Truppen in der Stadt einmarschiert. ZMINA hat weitere Fälle von Stadt- und Bezirksratsabgeordneten in der Region dokumentiert, die nach dem russischen Einmarsch in ihren Orten und Städten verschwanden.
Schüsse und Entführungen bei Protesten
In zahlreichen Städten in den russisch besetzten Gebieten gehen die Menschen auf die Straßen, um gegen ihre Besatzer zu demonstrieren. Auch gegen diese Demonstrationen gehen die Besatzer mit äußerster Härte vor. Bilder aus der Stadt Cherson zeigen, wie russische Soldaten Rauchgranaten in die Menge warfen, es fielen Schüsse. Mehrere Menschen wurden verletzt.
Seit mehreren Tagen protestierten Ukrainer*innen gegen die Besatzung ihrer Stadt Cherson. Am vergangenen Montag eskalierte dann die Situation.
Am Tag als diese Bilder entstanden, dem 21. März, wurde der Aktivist Igor Bashinskiy nach Angaben von ZMINA in Cherson festgenommen. Er hatte sich an Demonstrationen gegen die russischen Besatzer beteiligt. Der Kontakt zu Bashinskiy ist abgebrochen, sein Zustand und Aufenthaltsort sind unbekannt.
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Liveblog- Aktuelles zum Krieg in der Ukraine
Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.