Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erwägt laut Medienberichten einen Austritt aus der SPD. Hintergrund ist eine Debatte um linke und rechte Identitätspolitik.
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat im Streit über den richtigen Dialog mit sexuellen und anderen Minderheiten seinen Austritt aus der SPD ins Spiel gebracht. Daraufhin kochte am Mittwoch eine hitzige Debatte in sozialen Medien hoch. Ausgangspunkt war eine Debatte über den gesellschaftlichen Umgang mit oft benachteiligten Gruppen.
Vorläufiger Höhepunkt ist ein Schreiben des 77-Jährigen an die SPD-Spitze, in dem der frühere DDR-Bürgerrechtler nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur seinen Parteiaustritt in den Raum stellt.Thierse war 1990 in die SPD eingetreten und bis 2005 stellvertretender Parteichef.
Nach einem Bericht des Berliner "Tagesspiegels" bat Thierse in dem Schreiben an SPD-Chefin Saskia Esken darum, ihm öffentlich mitzuteilen, ob sein "Bleiben in der gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert oder eher schädlich" sei. Er selbst habe Zweifel, "wenn sich zwei Mitglieder der Parteiführung von mir distanzieren".
Thierse kritisiert Identitätspolitik von links und rechts
In einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hatte der SPD-Politiker kürzlich bemängelt, dass Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender-Themen heftiger und aggressiver würden, weil immer häufiger nicht inhaltliche Argumente, sondern die Identität der Gegner den Ausschlag gebe.
Mit Blick unter anderem auf die Debatte um die Umbenennung der Mohrenstraße in Berlin, deren Namen als rassistisch kritisiert wird, schrieb Thierse: "Die Reinigung und Liquidation von Geschichte war bisher Sache von Diktatoren, autoritären Regimen, religiös-weltanschaulichen Fanatikern."
Auch für eine gegenüber Minderheiten sensible Sprache findet der SPD-Mann kritische Worte: "Wenn Hochschullehrer sich zaghaft und unsicher erkundigen müssen, wie ihre Studierenden angeredet werden möchten, ob mit 'Frau' oder 'Herr' oder 'Mensch', mit 'er' oder 'sie' oder 'es', dann ist das keine Harmlosigkeit mehr."
Im Deutschlandfunk sagte Thierse, es gebe "Radikalisierungen des Diskurses", die "das Leben von Gemeinsamkeiten erschweren".
- Olaf Scholz: "Ein zuversichtliches Programm"
Im Fokus des SPD-Wahlprogramms steht ein sozialerer Staat und mehr Klimaschutz. Laut Kanzlerkandidat Scholz könne das Programm jede politische Debatte bestehen. Ein Überblick.
LGBTQ-Szene wirft SPD Unaufrichtigkeit vor
Der Weg zu einer gewissen Eskalation der Debatte wurde nach Berichten des "Tagesspiegel" und des Online-Magazins "queer.de" aber erst durch einen weiteren Vorgang bereitet. Demnach gab es Streit über einen Online-Talk der SPD-Grundwertekommission mit FAZ-Feuilletonchefin Sandra Kegel.
Aktivistinnen und Aktivisten der Schwulen-, Lesben-, Bi- und Transgender-Szene hatten der Frau vorgeworfen, in einem Artikel die Existenz von Queerfeindlichkeit unter anderem in der Filmszene zu bestreiten. Nun übten sie heftige Kritik an der Veranstaltung. Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland warf der SPD vor, ihre Beteuerungen, auf der Seite queerer Menschen zu stehen, seien nichts wert.
Darauf luden Esken und Parteivize Kevin Kühnert den Berichten zufolge rund 20 Personen, darunter Vertreterinnen und Vertreter der Szene, zu einem Online-Gespräch im März ein. Zu den Umständen der in der Kritik stehenden Online-Debatte schrieben sie laut den Berichten: "All das beschämt uns zutiefst."
Zudem schrieben sie demnach, dass Aussagen einzelner aus der SPD zur Identitätspolitik in Medien, auf Plattformen und parteiintern ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD zeichneten. Wohl genau darauf habe dann Thierse reagiert.
Aufregung in den sozialen Medien
Nachdem es öffentlich geworden war, dass Thierse einen SPD-Austritt ins Spiel gebracht hatte, kochte eine Debatte vor allem in den sozialen Netzwerken hoch. Wirtschaftsstaatssekretär Thomas Bareiß (CDU) etwa twitterte, die "Parteiausschluss-Debatte" offenbare die intellektuelle Leere der SPD. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), würdigte Thierse als anständigen und bedeutenden Sozialdemokraten.
Am Nachmittag telefonierten Thierse und Esken eine gute halbe Stunde miteinander, wie Esken dem "Spiegel" sagte. Sie habe den Kontakt gesucht. "Ich bin froh, dass wir den Gesprächsfaden aufgenommen haben und dass wir vereinbart haben, weiter im Gespräch zu bleiben", sagte sie dem Magazin.