Die USA gehen von 75.000 toten und verwundeten russischen Soldaten aus, der Kreml nennt das "Fake". Was sagen Experten zu den Zahlen? Und wie sieht es auf ukrainischer Seite aus?
Zehntausende Männer sind in Russlands Krieg gegen die Ukraine gezogen - viele von ihnen kommen nicht mehr lebend zurück. Zur Frage danach, wie viele Russen tatsächlich gefallen sind, kursieren jedoch viele unterschiedliche Antworten. Welche sind glaubwürdig?
Welche Zahlen zu gefallenen russischen Soldaten gibt es?
Je nachdem, wen man fragt, unterscheiden sich die Zahlen immens: So meldeten US-Medien am Mittwoch, dass es auf russischer Seite insgesamt 75.000 tote und verwundete russische Soldaten gäbe. Der Sender beruft sich auf Informationen aus dem US-Abgeordnetenhaus. Die CIA ging zuletzt von 15.000 Toten auf russischer Seite aus. Der britische Geheimdienst spricht sogar von 20.000. Moskau bemühte sich schnell um ein Dementi: Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sprach von einem "Fake" und erklärte, die Angaben stammten nicht von der US-Administration, sondern seien "Veröffentlichungen in Zeitungen".
"Grundsätzlich kann man so rechnen, dass auf drei verletzte ein toter Soldat kommt, daher korrelieren die Zahlen", erklärt der britische Militärexperte Matthew Ford von Universität in Sussex. Auch Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Uni Potsdam hält die US-Zahlen zu den Getöteten für plausibel.
Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, sprach am Dienstag sogar von fast 40.000 toten Russen. Diese Zahlen halten Experten wie Matthew Ford aber für deutlich zu hoch. Die russische Seite spielt ihre Verluste ihrerseits herunter: So meldete das russische Verteidigungsministerium Ende März nur 1.351 tote Militärs auf seiner Seite.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Recherche der BBC: Journalistin Olga Ivshina hat unter anderem lokale Todesmeldungen in Russland ausgewertet und identifizierte - Stand 8. Juli - 4.515 tote russische Soldaten.
Die Verluste der russischen Armee in der Ukraine steigen: Seit Beginn des Angriffskrieges vor zwei Monaten sind Tausende Soldaten für Putins Eroberungsfeldzug ums Leben gekommen, unter ihnen viele sehr junge Kämpfer.
Sind das verhältnismäßig viele oder wenige tote Soldaten?
"Wenn man circa 60.000 russische Personalausfälle veranschlagt und dies an der Ausgangszahl von etwa 180.000 Soldaten misst, die in die Ukraine geschickt wurden, sind die Verluste schon erheblich", sagt Militärexperte Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Vor allem zu Beginn des Kriegs habe Russland die Fehleinschätzung des Kreml, die Ukraine werde keinen homogenen nationalen Widerstand leisten, mit vielen Toten und Verwundeten bezahlt. "Die krachende Niederlage vor Kiew hat zu großen Verlusten geführt", erklärt Richter.
Militäthistoriker Neitzel blickt dabei auf das Gesamtbild: "Angesichts der Intensität der Kämpfe, der großen Zahl von eingesetzten schweren Waffen und schließlich der heftigen Häuserkämpfe sind das im historischen Vergleich erwartbare Zahlen."
Woher kommen die gefallenen russischen Soldaten?
Olga Ivshinas Recherchen zufolge kommen überproportional viele Meldungen gefallener russischen Soldaten aus eher entlegenen Regionen des Landes, etwa aus dem kaukasischen Dagestan oder der Region Burjatien, das an der Grenze zur Mongolei liegt. "Es ist nicht überraschend, dass Menschen aus armen und eher ländlichen Regionen für Russland in den Krieg ziehen", sagt Ford. Diese Entwicklung sehe man überall auf der Welt.
Auch Ivshina nennt die soziale Schieflage in Russland als Grund, warum viele junge Männer aus den Regionen in den Krieg ziehen.
Die Berichte aus den russischen Regionen unterscheiden sich auch deshalb, weil jede Region anders mit Todesmeldungen umgeht. Während etwa Dagestan bemüht sei, die Gefallenen als Helden zu stilisieren und daher ihren Tod vermelde, gebe es etwa in Sibirien Regionen, die Druck auf Hinterbliebene ausüben, damit sie keine Meldung erstatten, berichtet Ivshina.
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Wie sieht das Bild auf ukrainischer Seite aus?
"Zuverlässige Zahlen zu den ukrainischen Verlusten kenne ich nicht und die deutschen Behörden scheinen da nur eine ungefähre Ahnung zu haben", erklärt Sönke Neitzel.
Mitte Juni nannte die ukrainische Seite erstmals Zahlen zu den eigenen Gefallenen im Krieg: Präsidentenberater Olexij Arestowytsch sprach von 10.000 getöteten Militärs. Der Verteidigungsminister des Landes hatte zuvor erklärt, dass täglich bis zu 100 ukrainischen Soldaten im Krieg sterben würden.
"Ich denke, dass diese Zahlen jedoch höher liegen dürften", schätzt Matthew Ford. So meldeten US-Medien Mitte Juni, dass täglich sogar 200 bis 500 ukrainische Kräfte sterben würden, und beriefen sich auf ukrainische Offizielle. Aktuell dürften die Zahlen aber deutlich niedriger sein, weil sich ukrainische Truppen teils neu formieren würden, sagt Ford.
Wolfgang Richter geht davon aus, dass sich die ukrainischen Verluste gemessen an der Gesamtzahl der Kräfte prozentual in einer ähnlichen Größenordnung bewegen wie bei den Russen.
Daher werde sich der Krieg, je länger er dauert, zu einer Materialschlacht entwickeln. Während Russland auf eigene Materialreserven zurückgreifen kann, wird die Ukraine zunehmend auf westliche Waffen- und Munitionslieferungen angewiesen sein.
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