Der Umgang mit Russlands Krieg in der Ukraine deckt die Sollbruchstellen im politischen Westen auf. Und zeigt, worauf es in Zukunft ankommt. Ein Gradmesser heißt Erdogan.
"Autokraten sind keine verlässlichen Partner. Dass eine Autokratie sich in eine Diktatur wandelt, kann sehr schnell gehen", hält der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel ("Welt") fest. Es geht da in der ZDF-Sendung "maybrit illner" gerade um die Türkei, nicht um Russland - und die Frage, wie weit man dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan entgegenkommt, damit Schweden und Finnland Teil der Nato werden können, was der türkische Präsident derzeit blockiert. Yücel findet:
Andernfalls drohe, dass man irgendwann sagen wird, die Türkei-Politik war ein Fehler, genauso wie der Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Weber: Es braucht Einheit und Geschlossenheit
"Das, was Erdogan jetzt macht, ist brandgefährlich", sagt Manfred Weber (CSU), Chef der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP). Es gehe gegenüber Russland um einen Wertekonflikt. Da brauche es Einheit und Geschlossenheit, Entschiedenheit und Stärke. Wenn der türkische Staatschef meine, Druck aufbauen zu können, sollten im Gegenzug Sanktionen in Betracht gezogen werden, im Verbund mit Gesprächsangeboten.
So, wie (auch) Deutschland sich von russischem Gas abhängig gemacht hat, habe sich die Bundesrepublik in der Flüchtlingsfrage von Erdogan abhängig gemacht, sagt Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne).
Theveßen: USA sehen Erdogan als "hoffnungslosen Fall"
Eine mögliche Vermittlerrolle im russisch-ukrainischen Konflikt hat Erdogan verspielt, sagt die Politologin Gwendolyn Sasse. In der Ukraine sei der türkische Präsident nicht mehr als neutrale Instanz vermittelbar.
In den USA, sagt der Leiter des ZDF-Studios Washington, Elmar Theveßen, gilt Erdogan mittlerweile als "hoffnungsloser Fall". Andererseits sagt US-Generalleutnant a.D. Ben Hodges:
Aktuell überreize Erdogan sein Blatt, letztlich werde er der Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Nato zustimmen. "Wenn wir da zu keinem Angebot kommen, ist es ein schwerer Schlag", findet Weber.
EVP-Chef Weber: Europa nicht verteidigungsfähig
Übertragen auf die EU sieht der EVP-Vorsitzende ein Grundproblem in Machtstrukturen, die auf dem Prinzip der Einhelligkeit beruhen:
Weber weiter: "Wir sind diplomatisch mit der Einstimmigkeit nicht in der Lage, uns politisch zu positionieren, wenn es notwendig ist."
Sasse: Europa nicht in Ost und West trennen
Dissens gibt es an mehreren Stellen innerhalb der EU. "Je mehr wir von Europa Ost und Europa West sprechen, desto mehr spielt es in die Tasche von Wladimir Putin. Diese Blöcke gibt es so nicht, das sollten wir uns auch nicht einreden", fordert Politologin Sasse.
Die Kritik, die Deutschland aus Polen und dem Baltikum auf sich zieht, habe damit zu tun, dass beide Länder sich in der Russland-Politik lange übergangen gefühlt hätten.
- Fakten-Box | 28. September 2023
Zahlen, Daten, Fakten zum Thema der "maybrit illner"-Sendung am 28. September 2023
Hodges: Deutschland wichtigster Partner der USA
Hodges betont:
Deutschland sei diesbezüglich der wichtigste Alliierte der USA, Europa werde der Bundesrepublik folgen. Die Prognose des früheren Oberkommandierenden der US-Streitkräfte in Europa: Die Ukraine wird die russischen Truppen bis Jahresende auf die Linien des 24. Februar zurückdrängen. Danach gehe es, wohl langwierig, um Verhandlungen. Und damit um Geschlossenheit.
ZDF-Korrespondent: Autoritarismus darf nicht gewinnen
ZDF-Korrespondent Elmar Theveßen ist sich sicher:
Im Weißen Haus sehe man den Krieg als Lackmustest für Europa an. Die Welt befinde sich in der Auseinandersetzung zwischen Autoritarismus und Demokratie. Es müsse alles getan werden, damit der Autoritarismus nicht gewinne.