Wie Tunesien mit einer Wirtschaftskrise kämpft

    Krieg in der Ukraine:Tunesien: Vor dem Abgrund

    von Lukas Nickel
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    Ob Zucker, Weizen, Eier oder Benzin - derzeit fehlt vieles in Tunesien. Das Land kämpft mit einer Wirtschaftskrise, befeuert durch den Krieg in der Ukraine.

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    Wie ernst die Lage bei der Lebensmittelversorgung ist, sieht man mit Blick auf den Weizen – in Tunesien kann der Staat die Importe "des neuen Goldes" kaum noch bezahlen. 27.10.2022 | 7:17 min
    Auf den ersten Blick ist sie unsichtbar, die Krise. Die Auslagen der Markthändler in Tunis sind gut bestückt, mit Äpfeln, Tomaten, Oliven und Gewürzen. Doch vieles ist hier teurer geworden. Wenn Hajer auf dem Markt einkauft, fragt sie nach jedem Preis, wägt ab, ob sie es sich leisten kann. Das Budget, um eine Familie zu ernähren, habe sich seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine Ende Februar verdoppelt, erzählt die junge Frau. Oft seien die Supermarktregale leer, die Schlangen an den Tankstellen lang.

    Vor dem Krieg haben wir Geld zur Seite gelegt für einen Hauskauf. Jetzt denken wir nicht einmal mehr daran, Fleisch oder Fisch zu kaufen.

    Hajer

    Die Pläne, eine Familie zu gründen, seien weit in die Ferne gerückt, sagt sie.

    Krieg in der Ukraine als Brandbeschleuniger

    Im Sommer gab es zeitweise kein Brot mehr. Das Land importiert Weltbankdaten zufolge über 60 Prozent seines für die Brotproduktion benötigten Weizens aus der Ukraine und aus Russland. Als die - durch den Krieg in der Ukraine aufgehaltenen - Weizenfrachter dann endlich vor der tunesischen Küste eintrafen, konnte der hochverschuldete Staat den Weizen nicht bezahlen. Die EU-Kommission finanzierte zwei Frachter, auch die Weltbank gewährte einen Kredit über 130 Millionen US-Dollar. Das soll bis Ende des Jahres reichen, dann ist ein neuer Kredit des Internationalen Währungsfonds über 1,9 Milliarden US-Dollar in Sicht.
    Um seine Importe zu finanzieren und die heimische Wirtschaft am Laufen zu halten, musste das Land sich schon mehrfach vor dem Krieg Geld leihen, unter anderem beim Internationalen Währungsfonds und bei der Europäischen Union. Die Zentralbanken in Europa und den USA haben ihre Zinsen angehoben, dadurch steigen auch die Kosten für die tunesischen Kredite. Zusammen mit den weltweit gestiegenen Preisen wirkt das wie ein Brandbeschleuniger in dem Land.

    Gestiegene Preise machen Produzenten zu schaffen

    Hammada Tarhouni ist Großbäcker in Tunis. Weizen gibt es mittlerweile wieder, die Bäckereien können produzieren. Reihenweise braun gebrannte Baguettes holen Tarhouni und sein Team aus den mannshohen Öfen. Eigentlich unterstützt der Staat die Bäcker finanziell, weil diese ihr Brot zu einem staatlich festgelegten Preis verkaufen müssen - eine Unterstützungsmaßnahme für die Bevölkerung. Doch die Subventionen wurden vom Staat schon seit 14 Monaten nicht bezahlt, so Tarhouni. Er habe deswegen Probleme, seine Zulieferer zu bezahlen. Auch wenn Weizen eigentlich verfügbar sei:

    Die Mühlen, von denen wir unser Mehl beziehen, haben vorher noch vier Monate Verspätung bei der Zahlung akzeptiert. Jetzt wollen sie direkt bezahlt werden, das ist ein riesiges Problem für uns.

    Hammada Tarhouni, Bäcker

    Auch in Jendouba, der fruchtbaren Region ganz im Nordwesten des Landes, geht es den Landwirten ähnlich. Die Landschaft ist von flachen Feldern geprägt, ab und an erstreckt sich ein Hügel am Horizont. Abderrazzak Jabah ist seit über 30 Jahren Landwirt. Wie auch der Weizenpreis ist der Milchpreis in Tunesien gedeckelt - während die Produktionskosten weiter steigen.
    Produkte wie etwa Dünger, die tunesische Betriebe am globalen Markt kaufen müssen, sind nur sehr schwer oder zu hohen Preisen zu finden. Gleiches gilt für Kraftstoff. Mit seinem Hof macht Jabah gerade ein Minusgeschäft, viele seiner Kollegen mussten schon Vieh verkaufen. Aber das sei keine Option für ihn, denn der Verkauf würde ihn seiner Lebensgrundlage berauben, sagt er.

    Wir brauchen grundlegende Reformen, das ist das einzige Mittel.

    Abderrazzak Jabah, Landwirt

    Regierung will Preise für Grundnahrungsmittel erhöhen

    Mitte Oktober kam es zu Protesten im gesamten Land. Viele der Demonstrierenden forderten den Rücktritt von Präsident Kais Saied, der die Alleinherrschaft im Land immer weiter an sich reißt. Innerhalb von einem Jahr hat Saied erst das Parlament aufgelöst, dann Richter und Beamte entlassen. Mitte Oktober riefen die Bäckergewerkschaften zu Streiks auf. Die Regierung will die staatlich gedeckelten Preise für Grundnahrungsmittel wie Weizen und Milch ab 2023 anheben. Gleichzeitig sollen ärmere Haushalte gezielt unterstützt werden, damit den höheren Preis nur jene zahlen, die ihn sich leisten können.
    Das sei extrem wichtig, verdeutlicht Wirtschaftsprofessor Ridha Chkendali von der Universität Tunis. Sonst sei mit "schweren sozialen Unruhen" zu rechnen. Gut 80 Prozent der Bevölkerung seien bei einer Preisanhebung auf zusätzliche Hilfen angewiesen. Wie die Regierung diesen Spagat zwischen höheren Preisen und benötigten Subventionen bewerkstelligen will, wo schon versprochene Hilfen nicht gezahlt werden können, bleibt offen.
    Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:

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