Die Staats- und Regierungschefs der EU entscheiden am Donnerstag darüber, ob sie die Ukraine zum Beitrittskandidat ernennen. Was würde dieser Status tatsächlich bedeuten?
Die Erweiterung der EU um die Ukraine wäre ein langwieriger Prozess mit vielen Herausforderungen. Dies ist die Einschätzung von David Phinnemore, Professor für europäische Politik mit Forschungsinteressen im Bereich EU-Verträge und Erweiterung. Er sprach mit uns darüber, was der Kandidatenstatus für die Ukraine tatsächlich bedeutet.
ZDFheute: In der Ukraine gibt es Defizite u.a. bei der Rechtsstaatlichkeit und der Korruptionsbekämpfung. Eine Verbesserung gilt als Bedingung für den Beitritt. Wie realistisch ist das in einem Land, das sich im Krieg befindet?
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David Phinnemore: Natürlich wissen wir nicht, wie die Zukunft der Ukraine aussehen wird. Die Situation der Rechtsstaatlichkeit ist eine, die die EU zu gegebener Zeit überprüfen will.
Es gibt bestimmte Dinge, die die ukrainische Regierung tun kann, aber das wird im Kontext des andauernden Krieges schwierig sein. Außerdem stehen ihr nur begrenzte Mittel zur Verfügung, denn ihre Priorität ist natürlich die Stabilität und Sicherheit des Landes.
Ein veraltetes Rechtsstaatssystem, landesweite Korruption und kriegsbedingte Einschränkungen der Freiheits- und Persönlichkeitsrechte. Diese drängenden Probleme muss die Ukraine lösen, wenn sie in die EU will.
ZDFheute: Selbst wenn der Krieg vorbei wäre, hat die Ukraine immer noch demokratische Probleme, Oligarchen, usw - man sprach vom korruptesten Land Europas: Wie weit ist der Weg?
Phinnemore: Vieles hängt davon ab, wie die EU-Staaten auf die Kommission reagieren und wie schnell sie die Erweiterung vorantreiben wollen.
Außerdem ist die EU in den letzten zehn Jahren skeptischer geworden, was die Erweiterung angeht. Oft sind die Mitgliedstaaten bereit ihr Veto einzulegen und den Prozess zu verzögern.
Die Schlüsselfrage, vor der wir im Moment stehen, ist, ob die Ukraine-Krise die Meinungen im Europäischen Rat so verändert, dass die Kommission aufgefordert wird den Prozess zu beschleunigen.
Die Ukraine und die Republik Moldau sollen Beitrittskandidaten der EU werden, darauf hat sich die EU-Kommission festgelegt. Entscheiden muss der Europäische Rat.
ZDFheute: Ein Faktor in diesem Zusammenhang ist das Einstimmigkeitsprinzip - Länder wie Portugal und die Niederlande sehen den Kandidatenstatus als reines Symbol und könnten ihn ablehnen. Wie realistisch ist eine Blockade?
Phinnemore: Die Chancen stehen gut, dass sie ihn gewähren. Aber wir dürfen nicht vergessen, dies ist nur der Anfang. Anerkannt wird, dass die Ukraine von einem Beitrittskandidaten zu einem Land geworden ist, an dem die EU interessiert ist.
Wir haben das mit der Türkei gesehen. Die Franzosen und die Zyprioten haben sehr schnell gesagt, dass sie ihr Veto gegen die Eröffnung der Verhandlungen einlegen werden.
Ein weiteres Beispiel ist der Fall des heutigen Nordmazedonien, wo Griechenland ursprünglich die Verhandlungen wegen des Namens blockierte. Nachdem der Name geändert wurde, blockiert nun auch Bulgarien die Verhandlungen.
Wenn der EU-Gipfel der Ukraine und der Republik Moldau den Kandidatenstatus verleiht, wäre das ein wichtiges Signal. Skeptisch sehen das allerdings die Westbalkan-Staaten, die zum Teil seit Jahren in der EU-Warteschleife hängen.
Es gibt viele Beispiele dafür, dass Mitgliedstaaten in den letzten 10 bis 15 Jahren ihr Veto einlegten. Wenn man bis in die 90er Jahre zurückgeht und Finnland nimmt, dauerten die Verhandlungen ein paar Jahre.
Aber im Fall der Türkei wurden die Verhandlungen 2005 eröffnet und jetzt 17 Jahre später sind sie eingefroren. Es hängt also viel davon ab, ob die Kandidaten die Bedingungen erfüllen. Und viel hängt von der Politik im Europäischen Rat ab.
ZDFheute: Das Einstimmigkeitsprinzip blockiert die Fähigkeit der EU, Kompromisse zu schließen. Ungarn zum Beispiel hat das letzte Sanktionspaket blockiert. Müsste sich die EU nicht erst einmal selbst reformieren - bevor sie reformunfähig wird?
Phinnemore: In der Geschichte der EU gab es immer die Sorge, dass eine Erweiterung die Entscheidungsfindung lähmen könnte. Aber die Geschichte zeigt uns, dass die EU reformfähig ist.
Die wichtigsten Herausforderungen sind jedoch nicht nur die Ukraine, Moldawien und Georgien, sondern auch die Frage was mit den anderen Staaten geschehen soll, die bei ihren Beitrittsbemühungen weiter fortgeschritten sind.
Dies wirft die Frage auf, ob die EU die Erweiterung einfach fortsetzen will oder ob sie sich selbst neu konzipieren muss - und ob sie eine Art von abgestuften Formen des Beitritts schaffen muss. Die Erweiterung zwingt die EU sich die Frage zu stellen "was wir sind". Deshalb sind solche Entscheidungen für die EU sehr wichtig.
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Die zusätzliche Dimension der Ukraine liegt eindeutig in ihrer Größe und geopolitischen Lage. Denn bisher waren die Erweiterungen im geopolitischen Sinne nicht so umstritten.
Seit 15 Jahren wird die Ukraine als "östliche Nachbarschaft" bezeichnet. Im Allgemeinen wurde über Erweiterung nicht gesprochen. Vor allem um die Beziehungen mit Moskau nicht zu belasten.
Die EU hat diese Frage immer etwas verwischt, indem sie sagte: Ja, ihr seid Europäer, aber das bedeutet nicht wirklich, dass wir euch die Mitgliedschaft versprechen werden. Lassen wir es vage.
Wenn wir uns die Art der Beziehungen ansehen, die die EU mit der Ukraine, Moldawien und Georgien entwickelt hat, so ähneln sie sehr den Beziehungen, die sie vor dem Beitritt mit den Ländern Mittel- und Osteuropas oder dem westlichen Balkan hatte. Was jedoch fehlte, war der ausdrückliche Hinweis auf eine mögliche Mitgliedschaft.
Während die Westbalkan-Länder schon lange vor der Tür der EU warten, bekommt die Ukraine nun wohl im Eiltempo den Beitrittskandidatenstatus. Einschätzungen dazu von Anne Gellinek in Brüssel und Luc Walpot in der Ukraine.
ZDFheute: Mit dem Beitritt von Moldawien und der Ukraine würde die EU problematische Themen importieren, die sie lange vermieden hat. Stichwort Transnistrien, Stichwort Donbass und Krim. Wird dies zu einer Verschärfung des Konflikts mit Russland führen?
Phinnemore: Es ist sehr schwer vorherzusagen, wie Moskau darauf reagieren wird. Diese Länder importieren Instabilität. Das war schon immer eine Sorge bei der Erweiterung. Daher auch die ganze Debatte über die Türkei. Deshalb ist es von großer politischer und symbolischer Bedeutung, was die EU in dieser Woche zur Ukraine sagt.
Es wird wahrscheinlich viele Jahre dauern. Deswegen wird der Vorschlag des Europäischen Rates nie einen Zeitrahmen enthalten.
Es sei an der Zeit, das Land in die EU aufzunehmen - trotz berechtigter Kritik bei Rechtsstaatlichkeit und Korruption, so Ukraine-Expertin Triebel von der Konrad-Adenauer-Stiftung.
ZDFheute: Vor einem Jahr wäre es noch undenkbar gewesen, die Ukraine zu integrieren. Wie ernst sollte man einen Vorschlag nehmen, ist das ein Akt des Trotzes gegen Putin und nicht eine überlegte Integrationsmaßnahme?
Phinnemore: Es ist sehr schwierig für die EU, einen Antrag eines Landes abzulehnen, das sich zu vielen ihrer Normen bekennt. Vor allem, wenn dieses Land im Krieg ist.
Historisch gesehen hat sie im Allgemeinen sehr langsam reagiert. Selbst wenn wir auf die Osterweiterung in den ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges zurückblicken, bewegte sich die EU nur sehr zögerlich auf die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Länder zu.
Der Antrag der Ukraine muss ernst genommen werden. Aber nur weil man sich stark engagiert, heißt das noch lange nicht, dass diese Verpflichtung auch umgesetzt wird.
Nehmen Sie den Fall der Türkei im Jahr 1999: Der Europäische Rat bezeichnete die Türkei als ein Land, das für den Beitritt zur Europäischen Union bestimmt ist, und schauen Sie sich an, wo wir jetzt sind. Der Beitritt ist nicht garantiert.
Wo wird die Ukraine in fünf bis zehn Jahren in Bezug auf die Beziehungen zu Russland stehen? Werden die Staaten ernsthaft über die potenzielle geopolitische Instabilität besorgt sein, die durch die Erweiterung entstehen könnte? Es gibt so viele Unbekannte in diesem Prozess.
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ZDFheute: Es gibt andere Länder, die gerne Mitglied werden möchten wie Georgien, die Türkei, Bosnien-Herzegowina und der Kosovo. Ist die EU mit den verschiedenen Bewerbern überfordert?
Phinnemore: Die EU ist schon seit geraumer Zeit festgefahren, weil sie nicht unbedingt den politischen Willen hatte, sich zu erweitern. Länder des westlichen Balkans denken, wenn die EU den politischen Willen zur Erweiterung hätte, wären sie schon Mitglied.
Das Problem ist immer die Einstimmigkeit. Und die Erwartungen sind heute höher als früher.
Die Erweiterung ist nicht mehr das große Projekt wie in den 90er oder frühen 2000er Jahren. Die Union hat eine Menge anderer Probleme: die Finanzkrise, den Covid... Was für sie wichtiger ist, ist der symbolische Wert, der darin liegt, der Ukraine den Kandidatenstatus zu gewähren. Ganz klar signalisieren, dass sie als europäisch anerkannt wird.
Aber sie müssen natürlich die ukrainischen Erwartungen in den Griff bekommen, wenn der Europäische Rat der Ukraine den Kandidatenstatus zuerkennt. Das wird die Herausforderung sein.
Das Interview führte Anna Pettini, ZDF-Auslandsstudio Brüssel.
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